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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Der echte Kohlhase.

In der Zeit Meidingers hatte ein Polizeidiener in Berlin den Auftrag
erhalten, dem Gericht die Wittwe Müller, Krausenstraße 99, drei Treppen im
Hofe vorzuführen. Er kommt zurück und meldet sich. -- "Gehörig ausgerichtet?"
fragt der betreffende Beamte. -- "Alles in der Ordnung, Herr Referendar.
Nur wars nicht drei Treppen im Hofe, sondern vornheraus im Keller, auch
nicht 99 Krausenstraße, sondern 66 Tauvenstraße; dann war der Name nicht
Müller, sondern Pietsch, und endlich ist Arrestant eigentlich auch keine Wittwe,
sondern ein Fuhrmann."

So Vater Meidinger oder ein Mitstrebender. Und was soll die alte Anek¬
dote hier? Nun, sie ist ein Seitenstück zu der Sorgfalt, mit der die Gelehrten
unsres Konversationslexikons bisweilen verfahren, wenn sie uns geschichtliche
Persönlichkeiten vorzuführen haben, und zu der Zuverlässigkeit des Wissens,
welches die vertrauende Welt aus ihren Arbeiten schöpft. Ein Mitarbeiter des
brockhausschen Konversationslexikons, zehnte Auflage, hatte den Auftrag er¬
halten, dem Publicum den Helden von Klcists bekannter trefflicher Novelle
"Michael Kohlhaas" in einer Biographie vorzuführen. Er geht ans Werk und
entledigt sich seiner Aufgabe durch folgendes Elaborat:

"Kohlhaas (Michael), ein Roßkamm aus der Altmark, geb. 1521, der,
da er gegen ungerechte Behandlung kein Recht zu finden vermochte, sich dasselbe
selbst verschaffte, freilich aber auch nun weiter ging, als recht war. Als er
einst mit seinen Pferden auf die leipziger Messe ziehen wollte, wurde er von
den Leuten des Junkers Tronka wegen Mangels an Ausweis aufgehalten, nach
der Tronkaburg gebracht und hier durch den Junker und dessen Genossen ohne
alles Gehör genöthigt, zwei seiner schönsten Pferde nebst einem Knecht zurück¬
zulassen. Dies hätte nun weiter nichts zu bedeuten gehabt; allein der Junker
ließ die Pferde zu den schwersten Arbeiten gebrauchen und halb verhungern,
den Knecht aber zum Thore hinauswerfen. Kaum hatte K. solches erfahren,
als er nach der Tronkaburg zurückkehrte, um sich von der Wahrheit zu über¬
zeugen, wobei er nur Schimpf und Hohn erntete. Sofort reichte er nun eine
Klage gegen den Junker in Sachsen ein und, da hier mächtige Verwandte des


Grenzboten III. 1864. 11
Der echte Kohlhase.

In der Zeit Meidingers hatte ein Polizeidiener in Berlin den Auftrag
erhalten, dem Gericht die Wittwe Müller, Krausenstraße 99, drei Treppen im
Hofe vorzuführen. Er kommt zurück und meldet sich. — „Gehörig ausgerichtet?"
fragt der betreffende Beamte. — „Alles in der Ordnung, Herr Referendar.
Nur wars nicht drei Treppen im Hofe, sondern vornheraus im Keller, auch
nicht 99 Krausenstraße, sondern 66 Tauvenstraße; dann war der Name nicht
Müller, sondern Pietsch, und endlich ist Arrestant eigentlich auch keine Wittwe,
sondern ein Fuhrmann."

So Vater Meidinger oder ein Mitstrebender. Und was soll die alte Anek¬
dote hier? Nun, sie ist ein Seitenstück zu der Sorgfalt, mit der die Gelehrten
unsres Konversationslexikons bisweilen verfahren, wenn sie uns geschichtliche
Persönlichkeiten vorzuführen haben, und zu der Zuverlässigkeit des Wissens,
welches die vertrauende Welt aus ihren Arbeiten schöpft. Ein Mitarbeiter des
brockhausschen Konversationslexikons, zehnte Auflage, hatte den Auftrag er¬
halten, dem Publicum den Helden von Klcists bekannter trefflicher Novelle
„Michael Kohlhaas" in einer Biographie vorzuführen. Er geht ans Werk und
entledigt sich seiner Aufgabe durch folgendes Elaborat:

„Kohlhaas (Michael), ein Roßkamm aus der Altmark, geb. 1521, der,
da er gegen ungerechte Behandlung kein Recht zu finden vermochte, sich dasselbe
selbst verschaffte, freilich aber auch nun weiter ging, als recht war. Als er
einst mit seinen Pferden auf die leipziger Messe ziehen wollte, wurde er von
den Leuten des Junkers Tronka wegen Mangels an Ausweis aufgehalten, nach
der Tronkaburg gebracht und hier durch den Junker und dessen Genossen ohne
alles Gehör genöthigt, zwei seiner schönsten Pferde nebst einem Knecht zurück¬
zulassen. Dies hätte nun weiter nichts zu bedeuten gehabt; allein der Junker
ließ die Pferde zu den schwersten Arbeiten gebrauchen und halb verhungern,
den Knecht aber zum Thore hinauswerfen. Kaum hatte K. solches erfahren,
als er nach der Tronkaburg zurückkehrte, um sich von der Wahrheit zu über¬
zeugen, wobei er nur Schimpf und Hohn erntete. Sofort reichte er nun eine
Klage gegen den Junker in Sachsen ein und, da hier mächtige Verwandte des


Grenzboten III. 1864. 11
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[0089] Der echte Kohlhase. In der Zeit Meidingers hatte ein Polizeidiener in Berlin den Auftrag erhalten, dem Gericht die Wittwe Müller, Krausenstraße 99, drei Treppen im Hofe vorzuführen. Er kommt zurück und meldet sich. — „Gehörig ausgerichtet?" fragt der betreffende Beamte. — „Alles in der Ordnung, Herr Referendar. Nur wars nicht drei Treppen im Hofe, sondern vornheraus im Keller, auch nicht 99 Krausenstraße, sondern 66 Tauvenstraße; dann war der Name nicht Müller, sondern Pietsch, und endlich ist Arrestant eigentlich auch keine Wittwe, sondern ein Fuhrmann." So Vater Meidinger oder ein Mitstrebender. Und was soll die alte Anek¬ dote hier? Nun, sie ist ein Seitenstück zu der Sorgfalt, mit der die Gelehrten unsres Konversationslexikons bisweilen verfahren, wenn sie uns geschichtliche Persönlichkeiten vorzuführen haben, und zu der Zuverlässigkeit des Wissens, welches die vertrauende Welt aus ihren Arbeiten schöpft. Ein Mitarbeiter des brockhausschen Konversationslexikons, zehnte Auflage, hatte den Auftrag er¬ halten, dem Publicum den Helden von Klcists bekannter trefflicher Novelle „Michael Kohlhaas" in einer Biographie vorzuführen. Er geht ans Werk und entledigt sich seiner Aufgabe durch folgendes Elaborat: „Kohlhaas (Michael), ein Roßkamm aus der Altmark, geb. 1521, der, da er gegen ungerechte Behandlung kein Recht zu finden vermochte, sich dasselbe selbst verschaffte, freilich aber auch nun weiter ging, als recht war. Als er einst mit seinen Pferden auf die leipziger Messe ziehen wollte, wurde er von den Leuten des Junkers Tronka wegen Mangels an Ausweis aufgehalten, nach der Tronkaburg gebracht und hier durch den Junker und dessen Genossen ohne alles Gehör genöthigt, zwei seiner schönsten Pferde nebst einem Knecht zurück¬ zulassen. Dies hätte nun weiter nichts zu bedeuten gehabt; allein der Junker ließ die Pferde zu den schwersten Arbeiten gebrauchen und halb verhungern, den Knecht aber zum Thore hinauswerfen. Kaum hatte K. solches erfahren, als er nach der Tronkaburg zurückkehrte, um sich von der Wahrheit zu über¬ zeugen, wobei er nur Schimpf und Hohn erntete. Sofort reichte er nun eine Klage gegen den Junker in Sachsen ein und, da hier mächtige Verwandte des Grenzboten III. 1864. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/89>, abgerufen am 28.09.2024.