Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.Das älteste Christenthum und seine Literatur. 6. Jesus von Nazareth. "Ueber wenige große Männer der Geschichte sind wir so ungenügend wie Und es ist nicht blos das äußere Leben Jesu, dessen bestimmte Züge früh¬ Daß wir von der frühesten Entwicklung des innern Lebens Jesu, von Das älteste Christenthum und seine Literatur. 6. Jesus von Nazareth. „Ueber wenige große Männer der Geschichte sind wir so ungenügend wie Und es ist nicht blos das äußere Leben Jesu, dessen bestimmte Züge früh¬ Daß wir von der frühesten Entwicklung des innern Lebens Jesu, von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189550"/> </div> <div n="1"> <head> Das älteste Christenthum und seine Literatur.<lb/> 6. Jesus von Nazareth.</head><lb/> <p xml:id="ID_1744"> „Ueber wenige große Männer der Geschichte sind wir so ungenügend wie<lb/> über Jesus unterrichtet" — dieses Bekenntniß legt Strauß nach der eingehend¬<lb/> sten Untersuchung aller einzelnen über Jesus berichteten Thatsachen ab. Und<lb/> es ist nicht anders. Auf wenigen Seiten, ja in wenigen Sätzen ließe sich das¬<lb/> jenige erzählen, was als erweisliche Geschichte aus den Nachrichten von Jesus<lb/> sich herausschälen läßt. Alles andere ist ein Gewebe von Vermuthungen, die<lb/> sich mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit erheben lassen, und das,<lb/> als Ganzes betrachtet, sich im Grunde nur dadurch legitimiren kann, daß es<lb/> ein in sich zusammenstimmendes Lebensbild giebt, das mit den richtig verstan¬<lb/> denen Quellen nicht im Widerspruch steht. Allein je zweifelhafter eben diese<lb/> Quellen sind, je weniger sie kaum an irgendeinem Punkte festen Fuß zu fassen<lb/> gestatten, um so weiteren Spielraum hat die Vermuthung, die Combination:<lb/> dem Eindringen subjectiver Gesichtspunkte ist fast gar nicht auszuweichen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1745"> Und es ist nicht blos das äußere Leben Jesu, dessen bestimmte Züge früh¬<lb/> zeitig durch die Sage verwischt worden sind; dies hätte weniger zu sagen, da<lb/> das Leben Jesu doch in jedem Falle einen einfachen Verlauf hatte. Was wich¬<lb/> tiger ist, und beim Leben eines Religionsstifters vor allem das Interesse fesseln<lb/> muß, auch seine innere Geschichte, das Wachsthum seines geistigen Lebens,<lb/> die Entstehung und allmälige Entwicklung seines religiösen Ideals, die prakti¬<lb/> schen Folgerungen, die er daraus für die Erscheinungen des damaligen Neli-<lb/> gionslebens zog. — dies alles ist uns in theils unbestimmten, theils wider¬<lb/> sprechenden Zügen überliefert worden, so daß es in der That auf diesem gan¬<lb/> zen Gebiet keine Einzelfrage giebt, sei es z. B. das Verhalten Jesu zur Mes-<lb/> staswürde, oder zum jüdischen Gesetz, oder zu der nichtjüdischer Welt, welche<lb/> sich bis zur Gewinnung eines bestimmten, rein geschichtlichen Resultates erör¬<lb/> tern ließe. Denn eben hier stoßen wir bei jedem Schritt in unseren schrift¬<lb/> lichen Quellen auf jene verschiedenen Richtungen innerhalb der älteren Gemeinde,<lb/> welche alle ein gleichmäßiges Interesse daran hatten, ihre Auffassung des Chri¬<lb/> stenthums bis aus den Stifter selbst zurückzuführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1746" next="#ID_1747"> Daß wir von der frühesten Entwicklung des innern Lebens Jesu, von<lb/> seinem öffentlichen Austreten keine Nachrichten haben, ist nun freilich auch schon<lb/> deshalb begreiflich, weil es der schriftlichen Aufzeichnung, die ja kein rein histo¬<lb/> risches Interesse verfolgte, ferne lag, in die Verborgenheit innerer Vorgänge<lb/> einzudringen, für die es überdies an allen Mitteln der Bezeugung fehlen mußte.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0455]
Das älteste Christenthum und seine Literatur.
6. Jesus von Nazareth.
„Ueber wenige große Männer der Geschichte sind wir so ungenügend wie
über Jesus unterrichtet" — dieses Bekenntniß legt Strauß nach der eingehend¬
sten Untersuchung aller einzelnen über Jesus berichteten Thatsachen ab. Und
es ist nicht anders. Auf wenigen Seiten, ja in wenigen Sätzen ließe sich das¬
jenige erzählen, was als erweisliche Geschichte aus den Nachrichten von Jesus
sich herausschälen läßt. Alles andere ist ein Gewebe von Vermuthungen, die
sich mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit erheben lassen, und das,
als Ganzes betrachtet, sich im Grunde nur dadurch legitimiren kann, daß es
ein in sich zusammenstimmendes Lebensbild giebt, das mit den richtig verstan¬
denen Quellen nicht im Widerspruch steht. Allein je zweifelhafter eben diese
Quellen sind, je weniger sie kaum an irgendeinem Punkte festen Fuß zu fassen
gestatten, um so weiteren Spielraum hat die Vermuthung, die Combination:
dem Eindringen subjectiver Gesichtspunkte ist fast gar nicht auszuweichen.
Und es ist nicht blos das äußere Leben Jesu, dessen bestimmte Züge früh¬
zeitig durch die Sage verwischt worden sind; dies hätte weniger zu sagen, da
das Leben Jesu doch in jedem Falle einen einfachen Verlauf hatte. Was wich¬
tiger ist, und beim Leben eines Religionsstifters vor allem das Interesse fesseln
muß, auch seine innere Geschichte, das Wachsthum seines geistigen Lebens,
die Entstehung und allmälige Entwicklung seines religiösen Ideals, die prakti¬
schen Folgerungen, die er daraus für die Erscheinungen des damaligen Neli-
gionslebens zog. — dies alles ist uns in theils unbestimmten, theils wider¬
sprechenden Zügen überliefert worden, so daß es in der That auf diesem gan¬
zen Gebiet keine Einzelfrage giebt, sei es z. B. das Verhalten Jesu zur Mes-
staswürde, oder zum jüdischen Gesetz, oder zu der nichtjüdischer Welt, welche
sich bis zur Gewinnung eines bestimmten, rein geschichtlichen Resultates erör¬
tern ließe. Denn eben hier stoßen wir bei jedem Schritt in unseren schrift¬
lichen Quellen auf jene verschiedenen Richtungen innerhalb der älteren Gemeinde,
welche alle ein gleichmäßiges Interesse daran hatten, ihre Auffassung des Chri¬
stenthums bis aus den Stifter selbst zurückzuführen.
Daß wir von der frühesten Entwicklung des innern Lebens Jesu, von
seinem öffentlichen Austreten keine Nachrichten haben, ist nun freilich auch schon
deshalb begreiflich, weil es der schriftlichen Aufzeichnung, die ja kein rein histo¬
risches Interesse verfolgte, ferne lag, in die Verborgenheit innerer Vorgänge
einzudringen, für die es überdies an allen Mitteln der Bezeugung fehlen mußte.
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