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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Eine Betrachtung.

Der Grundstein, welcher am 19. Octol'er auf dem Schlachtfelde Leipzigs
in die Erde gesenkt wurde, ist auch ein Schlußstein für die großen Volksfeste
dieses Jahres, welche seit dem Beginn des Sommers in überreicher Zahl be¬
gangen wurden. Schon war unter den begeisterten Worten der Festredner die
Empfindung nicht zurückzudrängen, daß die harte politische Arbeit der Gegen¬
wart in den nächsten Tagen eine sehr nüchterne Werkeltagstimmung nöthig
mache. Möge jedem Theilnehmer an dem großen Fest die patriotische Wärme,
welche in diesen Tagen seine Seele erfüllte, auch Kraft, Entschlossenheit und
Ausdauer für die politische Thätigkeit in seiner Heimath vermehren.

Alle Fragen, welche uns das Herz bewegen, die Gegensätze und Forde¬
rungen der streitenden Parteien traten an den Deutschen heran, welcher in den
Tagen vom 16. bis 19. October, von der Generalversammlung des National¬
vereins bis zu den zahlreichen Trinksprüchen der großen Festmahle gegenwärtig
war. Und wer erfüllt von dem warmen Leben der Gegenwart den Blick aus
die weiten Ebenen um Leipzig richtete, aus denen vor fünfzig Jahren unter
Geschützdonner und Schlachtruf der Grund gelegt wurde zu den Kämpfen
unserer Zeit, dem zog neben der Erinnerung an die Vergangenheit auch der
innere Zusammenhang zwischen Einst und Jetzt, was mit Nothwendigkeit ge¬
worden ist, was wie zufällig mitwirkte, durch die Seele. Von den Fluren
Wachaus sucht das Auge zuerst die entfernte Stätte, wo der Mann von Tau¬
roggen durch preußisches Blut die Franzosen aus den Dorfgassen von Möckern
getrieben hat. Und weiter nach Nordosten späht der Blick in eine ferne Däm¬
merung bis zu dem Lande, wo im Jahre 1813 die höchste Begeisterung zu
einer großen That wird, und wo jetzt ein schwerer Conflict zwischen Fürst
und Volk das Aufblühen deutscher Volkskraft so peinlich zurückhält. Und im¬
mer wieder wurde die Frage laut: Wie kommt es doch, daß der Staat, wel¬
cher damals nicht nur durch seine Feldherren und durch die Tapferkeit seiner
Kneger, auch durch die großartigsten innern Reformen so plötzlich in den Vor¬
dergrund des deutschen Lebens trat, jetzt einen so argen Rückfall in Unkraft
erleben muß, wie ist gerade dort möglich, daß die eigene Regierung sich feind¬
selig gegen den Geist auflehnt, welcher in den Reformen der Stein. Harden-
berg, Scharnhorst lebte?

So lange dieser Staat eine politische Bedeutung hat, seit zweihundert
Jahren, war er bald Freude, bald Aerger. zuweilen der Stolz, zuweilen Ge-
genstand besonderer Abneigung bei der Mehrzahl Patriotischer Landsleute. Daß
er unentbehrlich sei ^gegen auswärtige Feinde, daß er eine sehr originelle, oft
herbe und unbehagliche Physiognomie zeige, dies wurde in der Zeit, wo die
Fürsten dem Staate den Charakter gaben, lebhaft gefühlt. Daß dort etwas


Eine Betrachtung.

Der Grundstein, welcher am 19. Octol'er auf dem Schlachtfelde Leipzigs
in die Erde gesenkt wurde, ist auch ein Schlußstein für die großen Volksfeste
dieses Jahres, welche seit dem Beginn des Sommers in überreicher Zahl be¬
gangen wurden. Schon war unter den begeisterten Worten der Festredner die
Empfindung nicht zurückzudrängen, daß die harte politische Arbeit der Gegen¬
wart in den nächsten Tagen eine sehr nüchterne Werkeltagstimmung nöthig
mache. Möge jedem Theilnehmer an dem großen Fest die patriotische Wärme,
welche in diesen Tagen seine Seele erfüllte, auch Kraft, Entschlossenheit und
Ausdauer für die politische Thätigkeit in seiner Heimath vermehren.

Alle Fragen, welche uns das Herz bewegen, die Gegensätze und Forde¬
rungen der streitenden Parteien traten an den Deutschen heran, welcher in den
Tagen vom 16. bis 19. October, von der Generalversammlung des National¬
vereins bis zu den zahlreichen Trinksprüchen der großen Festmahle gegenwärtig
war. Und wer erfüllt von dem warmen Leben der Gegenwart den Blick aus
die weiten Ebenen um Leipzig richtete, aus denen vor fünfzig Jahren unter
Geschützdonner und Schlachtruf der Grund gelegt wurde zu den Kämpfen
unserer Zeit, dem zog neben der Erinnerung an die Vergangenheit auch der
innere Zusammenhang zwischen Einst und Jetzt, was mit Nothwendigkeit ge¬
worden ist, was wie zufällig mitwirkte, durch die Seele. Von den Fluren
Wachaus sucht das Auge zuerst die entfernte Stätte, wo der Mann von Tau¬
roggen durch preußisches Blut die Franzosen aus den Dorfgassen von Möckern
getrieben hat. Und weiter nach Nordosten späht der Blick in eine ferne Däm¬
merung bis zu dem Lande, wo im Jahre 1813 die höchste Begeisterung zu
einer großen That wird, und wo jetzt ein schwerer Conflict zwischen Fürst
und Volk das Aufblühen deutscher Volkskraft so peinlich zurückhält. Und im¬
mer wieder wurde die Frage laut: Wie kommt es doch, daß der Staat, wel¬
cher damals nicht nur durch seine Feldherren und durch die Tapferkeit seiner
Kneger, auch durch die großartigsten innern Reformen so plötzlich in den Vor¬
dergrund des deutschen Lebens trat, jetzt einen so argen Rückfall in Unkraft
erleben muß, wie ist gerade dort möglich, daß die eigene Regierung sich feind¬
selig gegen den Geist auflehnt, welcher in den Reformen der Stein. Harden-
berg, Scharnhorst lebte?

So lange dieser Staat eine politische Bedeutung hat, seit zweihundert
Jahren, war er bald Freude, bald Aerger. zuweilen der Stolz, zuweilen Ge-
genstand besonderer Abneigung bei der Mehrzahl Patriotischer Landsleute. Daß
er unentbehrlich sei ^gegen auswärtige Feinde, daß er eine sehr originelle, oft
herbe und unbehagliche Physiognomie zeige, dies wurde in der Zeit, wo die
Fürsten dem Staate den Charakter gaben, lebhaft gefühlt. Daß dort etwas


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[0157] Eine Betrachtung. Der Grundstein, welcher am 19. Octol'er auf dem Schlachtfelde Leipzigs in die Erde gesenkt wurde, ist auch ein Schlußstein für die großen Volksfeste dieses Jahres, welche seit dem Beginn des Sommers in überreicher Zahl be¬ gangen wurden. Schon war unter den begeisterten Worten der Festredner die Empfindung nicht zurückzudrängen, daß die harte politische Arbeit der Gegen¬ wart in den nächsten Tagen eine sehr nüchterne Werkeltagstimmung nöthig mache. Möge jedem Theilnehmer an dem großen Fest die patriotische Wärme, welche in diesen Tagen seine Seele erfüllte, auch Kraft, Entschlossenheit und Ausdauer für die politische Thätigkeit in seiner Heimath vermehren. Alle Fragen, welche uns das Herz bewegen, die Gegensätze und Forde¬ rungen der streitenden Parteien traten an den Deutschen heran, welcher in den Tagen vom 16. bis 19. October, von der Generalversammlung des National¬ vereins bis zu den zahlreichen Trinksprüchen der großen Festmahle gegenwärtig war. Und wer erfüllt von dem warmen Leben der Gegenwart den Blick aus die weiten Ebenen um Leipzig richtete, aus denen vor fünfzig Jahren unter Geschützdonner und Schlachtruf der Grund gelegt wurde zu den Kämpfen unserer Zeit, dem zog neben der Erinnerung an die Vergangenheit auch der innere Zusammenhang zwischen Einst und Jetzt, was mit Nothwendigkeit ge¬ worden ist, was wie zufällig mitwirkte, durch die Seele. Von den Fluren Wachaus sucht das Auge zuerst die entfernte Stätte, wo der Mann von Tau¬ roggen durch preußisches Blut die Franzosen aus den Dorfgassen von Möckern getrieben hat. Und weiter nach Nordosten späht der Blick in eine ferne Däm¬ merung bis zu dem Lande, wo im Jahre 1813 die höchste Begeisterung zu einer großen That wird, und wo jetzt ein schwerer Conflict zwischen Fürst und Volk das Aufblühen deutscher Volkskraft so peinlich zurückhält. Und im¬ mer wieder wurde die Frage laut: Wie kommt es doch, daß der Staat, wel¬ cher damals nicht nur durch seine Feldherren und durch die Tapferkeit seiner Kneger, auch durch die großartigsten innern Reformen so plötzlich in den Vor¬ dergrund des deutschen Lebens trat, jetzt einen so argen Rückfall in Unkraft erleben muß, wie ist gerade dort möglich, daß die eigene Regierung sich feind¬ selig gegen den Geist auflehnt, welcher in den Reformen der Stein. Harden- berg, Scharnhorst lebte? So lange dieser Staat eine politische Bedeutung hat, seit zweihundert Jahren, war er bald Freude, bald Aerger. zuweilen der Stolz, zuweilen Ge- genstand besonderer Abneigung bei der Mehrzahl Patriotischer Landsleute. Daß er unentbehrlich sei ^gegen auswärtige Feinde, daß er eine sehr originelle, oft herbe und unbehagliche Physiognomie zeige, dies wurde in der Zeit, wo die Fürsten dem Staate den Charakter gaben, lebhaft gefühlt. Daß dort etwas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/157>, abgerufen am 15.01.2025.