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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Rußland und der Liberalismus.

An Stelle jener ängstlichen widerwilligen Aufmerksamkeit, die Europa seit
1815 den russischen Dingen nicht versagen konnte, trat mit dem Regierungs¬
antritt Alexander's des Zweiten ein gewisses tlieilnehmendes Interesse. Nichts
war natürlicher. Der Kaiser hatte laut entschiedenen "Bruch mit der Ver¬
gangenheit verkündet," sein Volk war ihm jubelnd zugefallen. Fieberhafte
Neformthätigkeit begann auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Regie¬
rung und Volk schienen wetteisern zu wollen in unbefangener Selbstkritik und
rückhaltloser Aufrichtigkeit der Bekehrung. Staunen mußte die selbstbewußte
Kühnheit erregen, mit der man den Neubau des gesammten Staatswesens
als das letzte Ziel hinstellte und es zu erreichen einen wahrhaft verhängniß-
vollen Schritt, die Lösung eines socialpolitischen Problems von so unerme߬
licher Tragweite wie die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht scheute. Wir
sahen uns vergebens nach einer Negierung um, der wir gleiche Entschlossenheit
hätten zutrauen können. So schien es denn eine ausgemachte Sache: Nu߬
land, der Stockreactiouär, war über Nacht liberal geworden, und Europa ver¬
zieh ihm gerührt alle seine Sünden.

Gespannt und voll Theilnahme sahen wir der Entwicklung der Dinge zu.
Ob auch hier aus der Reform die Revolution werden oder ob es der auto¬
kratischen Gewalt gelingen würde die Bewegung in der vorgezeichneten Bahn
zu halten? Fast, so schien es. sollte die letztere Ansicht Recht gewinnen. Jahre¬
lang wurde kein äußeres Anzeichen revolutionärer Gelüste sichtbar. So war
das Interesse Europa's, vielfach durch andere Erscheinungen bedeutsamster Art
in Anspruch genommen, merklich abgestumpft -- als es im October 136 l
Plötzlich wieder erweckt ward.

Man hörte von tumultuarischen Auftritten in Se. Petersburg. Moskau
und den übrigen russischen Universitätsstädten; andere Symptome bedenklicher
Natur, die bald hier bald da auftauchten, schienen damit in engem Zusammen¬
hang zu stehn. Wir Europäer, bekanntlich Sachverständige in revolutionären
Dingen, waren gleich einig, die Frage sei jetzt entschieden. Rußland werde
das Fegfeuer politischer Umwälzungen, vielleicht gräuelvoller Erschütterungen


Grenzboten I. 1862. 46
Rußland und der Liberalismus.

An Stelle jener ängstlichen widerwilligen Aufmerksamkeit, die Europa seit
1815 den russischen Dingen nicht versagen konnte, trat mit dem Regierungs¬
antritt Alexander's des Zweiten ein gewisses tlieilnehmendes Interesse. Nichts
war natürlicher. Der Kaiser hatte laut entschiedenen „Bruch mit der Ver¬
gangenheit verkündet," sein Volk war ihm jubelnd zugefallen. Fieberhafte
Neformthätigkeit begann auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Regie¬
rung und Volk schienen wetteisern zu wollen in unbefangener Selbstkritik und
rückhaltloser Aufrichtigkeit der Bekehrung. Staunen mußte die selbstbewußte
Kühnheit erregen, mit der man den Neubau des gesammten Staatswesens
als das letzte Ziel hinstellte und es zu erreichen einen wahrhaft verhängniß-
vollen Schritt, die Lösung eines socialpolitischen Problems von so unerme߬
licher Tragweite wie die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht scheute. Wir
sahen uns vergebens nach einer Negierung um, der wir gleiche Entschlossenheit
hätten zutrauen können. So schien es denn eine ausgemachte Sache: Nu߬
land, der Stockreactiouär, war über Nacht liberal geworden, und Europa ver¬
zieh ihm gerührt alle seine Sünden.

Gespannt und voll Theilnahme sahen wir der Entwicklung der Dinge zu.
Ob auch hier aus der Reform die Revolution werden oder ob es der auto¬
kratischen Gewalt gelingen würde die Bewegung in der vorgezeichneten Bahn
zu halten? Fast, so schien es. sollte die letztere Ansicht Recht gewinnen. Jahre¬
lang wurde kein äußeres Anzeichen revolutionärer Gelüste sichtbar. So war
das Interesse Europa's, vielfach durch andere Erscheinungen bedeutsamster Art
in Anspruch genommen, merklich abgestumpft — als es im October 136 l
Plötzlich wieder erweckt ward.

Man hörte von tumultuarischen Auftritten in Se. Petersburg. Moskau
und den übrigen russischen Universitätsstädten; andere Symptome bedenklicher
Natur, die bald hier bald da auftauchten, schienen damit in engem Zusammen¬
hang zu stehn. Wir Europäer, bekanntlich Sachverständige in revolutionären
Dingen, waren gleich einig, die Frage sei jetzt entschieden. Rußland werde
das Fegfeuer politischer Umwälzungen, vielleicht gräuelvoller Erschütterungen


Grenzboten I. 1862. 46
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[0369] Rußland und der Liberalismus. An Stelle jener ängstlichen widerwilligen Aufmerksamkeit, die Europa seit 1815 den russischen Dingen nicht versagen konnte, trat mit dem Regierungs¬ antritt Alexander's des Zweiten ein gewisses tlieilnehmendes Interesse. Nichts war natürlicher. Der Kaiser hatte laut entschiedenen „Bruch mit der Ver¬ gangenheit verkündet," sein Volk war ihm jubelnd zugefallen. Fieberhafte Neformthätigkeit begann auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Regie¬ rung und Volk schienen wetteisern zu wollen in unbefangener Selbstkritik und rückhaltloser Aufrichtigkeit der Bekehrung. Staunen mußte die selbstbewußte Kühnheit erregen, mit der man den Neubau des gesammten Staatswesens als das letzte Ziel hinstellte und es zu erreichen einen wahrhaft verhängniß- vollen Schritt, die Lösung eines socialpolitischen Problems von so unerme߬ licher Tragweite wie die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht scheute. Wir sahen uns vergebens nach einer Negierung um, der wir gleiche Entschlossenheit hätten zutrauen können. So schien es denn eine ausgemachte Sache: Nu߬ land, der Stockreactiouär, war über Nacht liberal geworden, und Europa ver¬ zieh ihm gerührt alle seine Sünden. Gespannt und voll Theilnahme sahen wir der Entwicklung der Dinge zu. Ob auch hier aus der Reform die Revolution werden oder ob es der auto¬ kratischen Gewalt gelingen würde die Bewegung in der vorgezeichneten Bahn zu halten? Fast, so schien es. sollte die letztere Ansicht Recht gewinnen. Jahre¬ lang wurde kein äußeres Anzeichen revolutionärer Gelüste sichtbar. So war das Interesse Europa's, vielfach durch andere Erscheinungen bedeutsamster Art in Anspruch genommen, merklich abgestumpft — als es im October 136 l Plötzlich wieder erweckt ward. Man hörte von tumultuarischen Auftritten in Se. Petersburg. Moskau und den übrigen russischen Universitätsstädten; andere Symptome bedenklicher Natur, die bald hier bald da auftauchten, schienen damit in engem Zusammen¬ hang zu stehn. Wir Europäer, bekanntlich Sachverständige in revolutionären Dingen, waren gleich einig, die Frage sei jetzt entschieden. Rußland werde das Fegfeuer politischer Umwälzungen, vielleicht gräuelvoller Erschütterungen Grenzboten I. 1862. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/369>, abgerufen am 26.12.2024.