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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Berliner Briefe.

Als im September 1860 auf Befehl unseres Gesandten in Neapel, des Grasen
Perporcher, die Lorelei) dazu benutzt worden war, Botendienste sür den König Franz
den Zweiten zu thun, und einen Brief von Gaeta nach Messina befördert hatte,
wurde unser auswärtiges Ministerium in der Presse sehr lebhaft interpellirt. Man
fragte, wie es möglich sei, daß ein preußisches Kriegsschiff, welches zum Schutz preußi¬
scher Interessen in die italienischen Gewässer geschickt war, durch eine augenscheinliche
Intervention in den inneren Streit Italiens die Interessen preußischer Unterthanen
in hohem Grade gefährdete. Man fragte, was denn hätte geschehen sollen, wenn
es Garibaldi eingefallen wäre, die bourbonische Feldpost einzufangen. Aus solche
Weise, meinte man, werde unsere junge Marine zum Spott der seefahrenden Nationen
gemacht. Zum Mindesten erwartete man irgend eine Aufklärung, wenn nicht um
der öffentlichen Meinung willen, so doch wenigstens wegen der Interessen unseres
Handelsstandes, der doch wissen mußte, in welcher Stellung unsere Negierung Ita¬
lien gegenüber sich befand. Aber das auswärtige Ministerium blieb stumm. Erst
im Februar des folgenden Jahres bei den Adreßvcrhandlungen machte Herr v. Schlei¬
me) einige Eröffnungen. Man erfuhr damals, daß Graf Perporcher aus eigene
Verantwortung gehandelt hatte, weil unglücklicher Weise die Telegraphendrähte zwi¬
schen Gaeta und Berlin abgerissen waren. Auf die Frage aber, weshalb denn auf
die Interpellationen der Presse gar keine Rücksicht genommen und diese Aufklärung
nicht sogleich gegeben worden sei, antwortete der Herr Minister: es wäre keine Aus¬
klärung gegeben worden, weil die Presse eine solche zu bestimmt und peremtorisch
gefordert hätte. Mit einer solchen Theorie kam denn allerdings die Presse in eine
schlimme Alternative; es wurde ihr fast unmöglich gemacht, die richtige Tonart zu
treffen. Spricht sie einen Wunsch recht lebhast und dringend aus, so heißt es: auf
eine so dringende Bitte dürfen wir nicht antworten, das würde ja das Ansehen
der Regierung compromittiren, das würde aussehen, als ob sie je einem Drängen
von außen nachgeben könnte. Ist dagegen die Bitte um Aufklärung in aller Be¬
scheidenheit gehalten, dann wird gesagt: ja, sehr lebhaft interessirt sich Niemand
dafür, wir haben also keine Veranlassung zu antworten.

Dies ist die berühmte Loreley-Theorie: das Nichtige gerade deshalb nicht zu
thun, weil die öffentliche Meinung es, verlangt. Diese Theorie soll jetzt, wenn wir
unserer ministeriellen Sternzeitung glauben dürfen, noch verallgemeinert und auf
die gesammte Leitung der öffentlichen Angelegenheiten angewendet werden. Nach
der Sternzeitung soll nämlich jetzt in Folge der Wahlen folgende Alternative vor
uns liegen: "Hat das Land die gereifte Besonnenheit und Mäßigung an den Tag
gelegt, welche eine weitere Durchführung der verfassungsmäßigen Freiheiten rathsam er¬
scheinen läßt; oder zeigt im Gegentheil die' Stimmung des Landes Symptome einer
Erregung, die uns dringend die Sorge für eine verstärkte Befestigung der gesetzlichen
Schranken und für eine kräftigere Handhabung der obrigkeitlichen Autorität alten-


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Berliner Briefe.

Als im September 1860 auf Befehl unseres Gesandten in Neapel, des Grasen
Perporcher, die Lorelei) dazu benutzt worden war, Botendienste sür den König Franz
den Zweiten zu thun, und einen Brief von Gaeta nach Messina befördert hatte,
wurde unser auswärtiges Ministerium in der Presse sehr lebhaft interpellirt. Man
fragte, wie es möglich sei, daß ein preußisches Kriegsschiff, welches zum Schutz preußi¬
scher Interessen in die italienischen Gewässer geschickt war, durch eine augenscheinliche
Intervention in den inneren Streit Italiens die Interessen preußischer Unterthanen
in hohem Grade gefährdete. Man fragte, was denn hätte geschehen sollen, wenn
es Garibaldi eingefallen wäre, die bourbonische Feldpost einzufangen. Aus solche
Weise, meinte man, werde unsere junge Marine zum Spott der seefahrenden Nationen
gemacht. Zum Mindesten erwartete man irgend eine Aufklärung, wenn nicht um
der öffentlichen Meinung willen, so doch wenigstens wegen der Interessen unseres
Handelsstandes, der doch wissen mußte, in welcher Stellung unsere Negierung Ita¬
lien gegenüber sich befand. Aber das auswärtige Ministerium blieb stumm. Erst
im Februar des folgenden Jahres bei den Adreßvcrhandlungen machte Herr v. Schlei¬
me) einige Eröffnungen. Man erfuhr damals, daß Graf Perporcher aus eigene
Verantwortung gehandelt hatte, weil unglücklicher Weise die Telegraphendrähte zwi¬
schen Gaeta und Berlin abgerissen waren. Auf die Frage aber, weshalb denn auf
die Interpellationen der Presse gar keine Rücksicht genommen und diese Aufklärung
nicht sogleich gegeben worden sei, antwortete der Herr Minister: es wäre keine Aus¬
klärung gegeben worden, weil die Presse eine solche zu bestimmt und peremtorisch
gefordert hätte. Mit einer solchen Theorie kam denn allerdings die Presse in eine
schlimme Alternative; es wurde ihr fast unmöglich gemacht, die richtige Tonart zu
treffen. Spricht sie einen Wunsch recht lebhast und dringend aus, so heißt es: auf
eine so dringende Bitte dürfen wir nicht antworten, das würde ja das Ansehen
der Regierung compromittiren, das würde aussehen, als ob sie je einem Drängen
von außen nachgeben könnte. Ist dagegen die Bitte um Aufklärung in aller Be¬
scheidenheit gehalten, dann wird gesagt: ja, sehr lebhaft interessirt sich Niemand
dafür, wir haben also keine Veranlassung zu antworten.

Dies ist die berühmte Loreley-Theorie: das Nichtige gerade deshalb nicht zu
thun, weil die öffentliche Meinung es, verlangt. Diese Theorie soll jetzt, wenn wir
unserer ministeriellen Sternzeitung glauben dürfen, noch verallgemeinert und auf
die gesammte Leitung der öffentlichen Angelegenheiten angewendet werden. Nach
der Sternzeitung soll nämlich jetzt in Folge der Wahlen folgende Alternative vor
uns liegen: „Hat das Land die gereifte Besonnenheit und Mäßigung an den Tag
gelegt, welche eine weitere Durchführung der verfassungsmäßigen Freiheiten rathsam er¬
scheinen läßt; oder zeigt im Gegentheil die' Stimmung des Landes Symptome einer
Erregung, die uns dringend die Sorge für eine verstärkte Befestigung der gesetzlichen
Schranken und für eine kräftigere Handhabung der obrigkeitlichen Autorität alten-


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[0123] Berliner Briefe. Als im September 1860 auf Befehl unseres Gesandten in Neapel, des Grasen Perporcher, die Lorelei) dazu benutzt worden war, Botendienste sür den König Franz den Zweiten zu thun, und einen Brief von Gaeta nach Messina befördert hatte, wurde unser auswärtiges Ministerium in der Presse sehr lebhaft interpellirt. Man fragte, wie es möglich sei, daß ein preußisches Kriegsschiff, welches zum Schutz preußi¬ scher Interessen in die italienischen Gewässer geschickt war, durch eine augenscheinliche Intervention in den inneren Streit Italiens die Interessen preußischer Unterthanen in hohem Grade gefährdete. Man fragte, was denn hätte geschehen sollen, wenn es Garibaldi eingefallen wäre, die bourbonische Feldpost einzufangen. Aus solche Weise, meinte man, werde unsere junge Marine zum Spott der seefahrenden Nationen gemacht. Zum Mindesten erwartete man irgend eine Aufklärung, wenn nicht um der öffentlichen Meinung willen, so doch wenigstens wegen der Interessen unseres Handelsstandes, der doch wissen mußte, in welcher Stellung unsere Negierung Ita¬ lien gegenüber sich befand. Aber das auswärtige Ministerium blieb stumm. Erst im Februar des folgenden Jahres bei den Adreßvcrhandlungen machte Herr v. Schlei¬ me) einige Eröffnungen. Man erfuhr damals, daß Graf Perporcher aus eigene Verantwortung gehandelt hatte, weil unglücklicher Weise die Telegraphendrähte zwi¬ schen Gaeta und Berlin abgerissen waren. Auf die Frage aber, weshalb denn auf die Interpellationen der Presse gar keine Rücksicht genommen und diese Aufklärung nicht sogleich gegeben worden sei, antwortete der Herr Minister: es wäre keine Aus¬ klärung gegeben worden, weil die Presse eine solche zu bestimmt und peremtorisch gefordert hätte. Mit einer solchen Theorie kam denn allerdings die Presse in eine schlimme Alternative; es wurde ihr fast unmöglich gemacht, die richtige Tonart zu treffen. Spricht sie einen Wunsch recht lebhast und dringend aus, so heißt es: auf eine so dringende Bitte dürfen wir nicht antworten, das würde ja das Ansehen der Regierung compromittiren, das würde aussehen, als ob sie je einem Drängen von außen nachgeben könnte. Ist dagegen die Bitte um Aufklärung in aller Be¬ scheidenheit gehalten, dann wird gesagt: ja, sehr lebhaft interessirt sich Niemand dafür, wir haben also keine Veranlassung zu antworten. Dies ist die berühmte Loreley-Theorie: das Nichtige gerade deshalb nicht zu thun, weil die öffentliche Meinung es, verlangt. Diese Theorie soll jetzt, wenn wir unserer ministeriellen Sternzeitung glauben dürfen, noch verallgemeinert und auf die gesammte Leitung der öffentlichen Angelegenheiten angewendet werden. Nach der Sternzeitung soll nämlich jetzt in Folge der Wahlen folgende Alternative vor uns liegen: „Hat das Land die gereifte Besonnenheit und Mäßigung an den Tag gelegt, welche eine weitere Durchführung der verfassungsmäßigen Freiheiten rathsam er¬ scheinen läßt; oder zeigt im Gegentheil die' Stimmung des Landes Symptome einer Erregung, die uns dringend die Sorge für eine verstärkte Befestigung der gesetzlichen Schranken und für eine kräftigere Handhabung der obrigkeitlichen Autorität alten- 15'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/123>, abgerufen am 27.12.2024.