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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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zeitungspartei und könnte ohne Bedenken auch in einem Ministerium Arnim Platz
nehmen. Herr v. der Heydt hat eine dauerhafte Natur; seit 1848 hat ihn kein
Wechsel der politischen Systeme angefochten; er ist der Vater der Gcwerbegcsetz-
gcbung, für welche Pause und Kleist-Nctzow schwärmen; das wird ihn aber nicht
hindern, allenfalls auch ein Gewerbegcsctz nach dem Geschmack von Reichenheim und
Schulze-Delitzsch ausarbeiten zu lassen.. Ueber Gras Bernstorff wollen wir noch nicht
urtheilen; daß die reactionäre Partei ihn auf ihre Candidatcnliste gesetzt hat, mag
vielleicht nur geschehen sein, um ihn zu discreditiren; doch wollen wir nicht ver¬
gessen, daß man ihn immer zu den conservativen Staatsmännern Preußens gerech¬
net hat. Herr von Bethmann-Hollweg ist ein Mann von der größten Integrität
des Charakters, aber im Uebrigen ein gelehrter juristischer Theologe, der die Zeit da¬
mit vertrödelt, die Raumer'sehen Regulative zu interpretiren; in politischen Dingen
besitzt er eine kindliche Naivetät; durch seine in Königsberg gehaltene Rede hat er
seinem Collegen, dem Kriegsminister, einen härteren Schlag versetzt, als alle demo¬
kratischen Zeitungen mit allen ihren Leitartikel" zusammengenommen. Wer also
unsere Zustände richtig beurtheilen will, darf nie vergessen, daß dem sehr gemäßig¬
ten Liberalismus von Männern, wie Auerswald, Pntow, Schwer!", stets ein er¬
h ^>. ebliches Gegengewicht innerhalb des Ministeriums gegenübersteht.



Literatur.

Sitten- und Charakterbilder aus der Türkei und Tscherkessicn. -- Von C.
Stücker. Berlin, Verlag von Reinhold Schlingmann. 1862.

Wenn ein in sehr verschiedenen Verhältnissen verbrachtes, nbcnteuervolles Leben
allein bie Berechtigung gäbe, ein Buch zu schreiben, so hätte der Verfasser diese Be¬
rechtigung in hohem Grade. Derselbe wurde, nachdem er Anfangs Lust zum geist¬
lichen Stand gehabt, von der Neigung Soldat zu werden ergriffen, trat in ein
Preußisches Infanterieregiment, verließ 1850 die preußische Armee, um sich in die
schlesmig-holsteinische aufnehmen zu lassen, wurde daun Kaufmann, dann Offizier
in der englisch-deutschen Legion, mit der er nach der Levante abging, dann tür¬
kischer Diebsfänger, endlich militärischer Rathgeber bei dem Tscherkessenhäuptling
Raid, bei dem er sich im Herbst 1858 wegen Krankheit verabschieden mußte. Eini¬
ges aus der Schilderung dieser wechselvollen Laufbahn ist nicht ohne Interesse, doch
geht dem Verfasser, was man Bildung nennt, fast ganz ab, seine Beobachtungsgabe
ist mittelmäßig, sein Sinn für das Detail wenig ausgeprägt, seine Sprache die der
Unteroffizierswachtstube. In vielen Fällen verräth er die gröbste Unkenntniß der
Verhältnisse, in denen er sich bewegte, oft wenig erbauliche Neigungen. Wie, er


zeitungspartei und könnte ohne Bedenken auch in einem Ministerium Arnim Platz
nehmen. Herr v. der Heydt hat eine dauerhafte Natur; seit 1848 hat ihn kein
Wechsel der politischen Systeme angefochten; er ist der Vater der Gcwerbegcsetz-
gcbung, für welche Pause und Kleist-Nctzow schwärmen; das wird ihn aber nicht
hindern, allenfalls auch ein Gewerbegcsctz nach dem Geschmack von Reichenheim und
Schulze-Delitzsch ausarbeiten zu lassen.. Ueber Gras Bernstorff wollen wir noch nicht
urtheilen; daß die reactionäre Partei ihn auf ihre Candidatcnliste gesetzt hat, mag
vielleicht nur geschehen sein, um ihn zu discreditiren; doch wollen wir nicht ver¬
gessen, daß man ihn immer zu den conservativen Staatsmännern Preußens gerech¬
net hat. Herr von Bethmann-Hollweg ist ein Mann von der größten Integrität
des Charakters, aber im Uebrigen ein gelehrter juristischer Theologe, der die Zeit da¬
mit vertrödelt, die Raumer'sehen Regulative zu interpretiren; in politischen Dingen
besitzt er eine kindliche Naivetät; durch seine in Königsberg gehaltene Rede hat er
seinem Collegen, dem Kriegsminister, einen härteren Schlag versetzt, als alle demo¬
kratischen Zeitungen mit allen ihren Leitartikel» zusammengenommen. Wer also
unsere Zustände richtig beurtheilen will, darf nie vergessen, daß dem sehr gemäßig¬
ten Liberalismus von Männern, wie Auerswald, Pntow, Schwer!», stets ein er¬
h ^>. ebliches Gegengewicht innerhalb des Ministeriums gegenübersteht.



Literatur.

Sitten- und Charakterbilder aus der Türkei und Tscherkessicn. — Von C.
Stücker. Berlin, Verlag von Reinhold Schlingmann. 1862.

Wenn ein in sehr verschiedenen Verhältnissen verbrachtes, nbcnteuervolles Leben
allein bie Berechtigung gäbe, ein Buch zu schreiben, so hätte der Verfasser diese Be¬
rechtigung in hohem Grade. Derselbe wurde, nachdem er Anfangs Lust zum geist¬
lichen Stand gehabt, von der Neigung Soldat zu werden ergriffen, trat in ein
Preußisches Infanterieregiment, verließ 1850 die preußische Armee, um sich in die
schlesmig-holsteinische aufnehmen zu lassen, wurde daun Kaufmann, dann Offizier
in der englisch-deutschen Legion, mit der er nach der Levante abging, dann tür¬
kischer Diebsfänger, endlich militärischer Rathgeber bei dem Tscherkessenhäuptling
Raid, bei dem er sich im Herbst 1858 wegen Krankheit verabschieden mußte. Eini¬
ges aus der Schilderung dieser wechselvollen Laufbahn ist nicht ohne Interesse, doch
geht dem Verfasser, was man Bildung nennt, fast ganz ab, seine Beobachtungsgabe
ist mittelmäßig, sein Sinn für das Detail wenig ausgeprägt, seine Sprache die der
Unteroffizierswachtstube. In vielen Fällen verräth er die gröbste Unkenntniß der
Verhältnisse, in denen er sich bewegte, oft wenig erbauliche Neigungen. Wie, er


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[0407] zeitungspartei und könnte ohne Bedenken auch in einem Ministerium Arnim Platz nehmen. Herr v. der Heydt hat eine dauerhafte Natur; seit 1848 hat ihn kein Wechsel der politischen Systeme angefochten; er ist der Vater der Gcwerbegcsetz- gcbung, für welche Pause und Kleist-Nctzow schwärmen; das wird ihn aber nicht hindern, allenfalls auch ein Gewerbegcsctz nach dem Geschmack von Reichenheim und Schulze-Delitzsch ausarbeiten zu lassen.. Ueber Gras Bernstorff wollen wir noch nicht urtheilen; daß die reactionäre Partei ihn auf ihre Candidatcnliste gesetzt hat, mag vielleicht nur geschehen sein, um ihn zu discreditiren; doch wollen wir nicht ver¬ gessen, daß man ihn immer zu den conservativen Staatsmännern Preußens gerech¬ net hat. Herr von Bethmann-Hollweg ist ein Mann von der größten Integrität des Charakters, aber im Uebrigen ein gelehrter juristischer Theologe, der die Zeit da¬ mit vertrödelt, die Raumer'sehen Regulative zu interpretiren; in politischen Dingen besitzt er eine kindliche Naivetät; durch seine in Königsberg gehaltene Rede hat er seinem Collegen, dem Kriegsminister, einen härteren Schlag versetzt, als alle demo¬ kratischen Zeitungen mit allen ihren Leitartikel» zusammengenommen. Wer also unsere Zustände richtig beurtheilen will, darf nie vergessen, daß dem sehr gemäßig¬ ten Liberalismus von Männern, wie Auerswald, Pntow, Schwer!», stets ein er¬ h ^>. ebliches Gegengewicht innerhalb des Ministeriums gegenübersteht. Literatur. Sitten- und Charakterbilder aus der Türkei und Tscherkessicn. — Von C. Stücker. Berlin, Verlag von Reinhold Schlingmann. 1862. Wenn ein in sehr verschiedenen Verhältnissen verbrachtes, nbcnteuervolles Leben allein bie Berechtigung gäbe, ein Buch zu schreiben, so hätte der Verfasser diese Be¬ rechtigung in hohem Grade. Derselbe wurde, nachdem er Anfangs Lust zum geist¬ lichen Stand gehabt, von der Neigung Soldat zu werden ergriffen, trat in ein Preußisches Infanterieregiment, verließ 1850 die preußische Armee, um sich in die schlesmig-holsteinische aufnehmen zu lassen, wurde daun Kaufmann, dann Offizier in der englisch-deutschen Legion, mit der er nach der Levante abging, dann tür¬ kischer Diebsfänger, endlich militärischer Rathgeber bei dem Tscherkessenhäuptling Raid, bei dem er sich im Herbst 1858 wegen Krankheit verabschieden mußte. Eini¬ ges aus der Schilderung dieser wechselvollen Laufbahn ist nicht ohne Interesse, doch geht dem Verfasser, was man Bildung nennt, fast ganz ab, seine Beobachtungsgabe ist mittelmäßig, sein Sinn für das Detail wenig ausgeprägt, seine Sprache die der Unteroffizierswachtstube. In vielen Fällen verräth er die gröbste Unkenntniß der Verhältnisse, in denen er sich bewegte, oft wenig erbauliche Neigungen. Wie, er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/407>, abgerufen am 27.12.2024.