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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Tagebücher von Barnhagen von Ense.
2 Bände, Leipzig, Brockhaus.

Die Tagebücher beginnen August 183S und gehen bis zum Ende des
Jahres 1844. Nachdem Rachel gestorben war, der er alle seine Gedanken. Empfin¬
dungen und Einfälle getreulichst mittheilte, um sie von ihr berichtigen und
idealisiren zu lassen, fühlte Varnhagen. trotz seines ausgebreiteten Umganges
wahrscheinlich dringender das Bedürfniß, sich durch Niederschreiben dessen, was
er erlebte und dachte, mit sich selbst ins Klare zu setzen. Durch das ganze
Tagebuch zieht sich das Gefühl seines Verlustes, und bei allen seinen Plänen
und Wünschen fragt er sich fortwährend, was wol Rahel dazu denken würde,
wenn sie noch lebte.

Das Tagebuch hat den doppelten Zweck, theils die Vorfälle des Tages
zu notiren. theils seine Gedankenspähne aufzubewahren. Ueber die letzteren
hat Varnhagen oft eine kindliche Freude und wundert sich über ihren guten
Klang. Nicht ohne Ursache. Denn seine reiche Erfahrung gibt ihm Gesichts¬
punkte an die Hand, die nicht gerade auf der Heerstraße liegen, und er hat
das ernstliche Bestreben, seine Gedanken zur Reife zu bringen.

Die durchgehende Stimmung ist der Wechsel zwischen dem Wunsch, wie¬
der in Staatsangelegenheiten beschäftigt zu werden, und der Scheu, aus der
Bequemlichkeit seiner behaglichen Muße herauszutreten. Gespannt lauscht er
auf jedes Wort, aus dem er schließen könnte, man wolle ihn wieder in den
Staatsdienst ziehen; er versichert zwar regelmäßig, er wolle und könne nicht
darauf eingehen, er sei zu alt u. s. w.. aber der Wunsch schläft nicht ein, einige-
male bricht sogar das Gefühl hervor, er sei eigentlich berufen noch etwas
Großes zu wirken. Seine große Jahreszeit ist regelmäßig die Saison in
Kissingen, dort trifft er mit hohen Herrschaften zusammen, mit Prinzessinnen
u- s. w., die sich an Höflichkeit gegen ihn überbieten. Indeß an Beschäftigung
fehlt es ihm auch in Berlin nicht: bald kommt ein junger Literat, der ihm
mit tiefer Ehrfurcht seine Erstlingsversuche überreicht, bald ein vornehmer Mann,
der von ihm verlangt, er solle ihm irgend eine Stelle aufschlagen; einmal
muß er Metternich Auskunft darüber geben, was es mit dem jungen Deutsch-'
land für eine Bewandtniß hat.


Grenzboten IV. 1861. 41
Tagebücher von Barnhagen von Ense.
2 Bände, Leipzig, Brockhaus.

Die Tagebücher beginnen August 183S und gehen bis zum Ende des
Jahres 1844. Nachdem Rachel gestorben war, der er alle seine Gedanken. Empfin¬
dungen und Einfälle getreulichst mittheilte, um sie von ihr berichtigen und
idealisiren zu lassen, fühlte Varnhagen. trotz seines ausgebreiteten Umganges
wahrscheinlich dringender das Bedürfniß, sich durch Niederschreiben dessen, was
er erlebte und dachte, mit sich selbst ins Klare zu setzen. Durch das ganze
Tagebuch zieht sich das Gefühl seines Verlustes, und bei allen seinen Plänen
und Wünschen fragt er sich fortwährend, was wol Rahel dazu denken würde,
wenn sie noch lebte.

Das Tagebuch hat den doppelten Zweck, theils die Vorfälle des Tages
zu notiren. theils seine Gedankenspähne aufzubewahren. Ueber die letzteren
hat Varnhagen oft eine kindliche Freude und wundert sich über ihren guten
Klang. Nicht ohne Ursache. Denn seine reiche Erfahrung gibt ihm Gesichts¬
punkte an die Hand, die nicht gerade auf der Heerstraße liegen, und er hat
das ernstliche Bestreben, seine Gedanken zur Reife zu bringen.

Die durchgehende Stimmung ist der Wechsel zwischen dem Wunsch, wie¬
der in Staatsangelegenheiten beschäftigt zu werden, und der Scheu, aus der
Bequemlichkeit seiner behaglichen Muße herauszutreten. Gespannt lauscht er
auf jedes Wort, aus dem er schließen könnte, man wolle ihn wieder in den
Staatsdienst ziehen; er versichert zwar regelmäßig, er wolle und könne nicht
darauf eingehen, er sei zu alt u. s. w.. aber der Wunsch schläft nicht ein, einige-
male bricht sogar das Gefühl hervor, er sei eigentlich berufen noch etwas
Großes zu wirken. Seine große Jahreszeit ist regelmäßig die Saison in
Kissingen, dort trifft er mit hohen Herrschaften zusammen, mit Prinzessinnen
u- s. w., die sich an Höflichkeit gegen ihn überbieten. Indeß an Beschäftigung
fehlt es ihm auch in Berlin nicht: bald kommt ein junger Literat, der ihm
mit tiefer Ehrfurcht seine Erstlingsversuche überreicht, bald ein vornehmer Mann,
der von ihm verlangt, er solle ihm irgend eine Stelle aufschlagen; einmal
muß er Metternich Auskunft darüber geben, was es mit dem jungen Deutsch-'
land für eine Bewandtniß hat.


Grenzboten IV. 1861. 41
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[0331] Tagebücher von Barnhagen von Ense. 2 Bände, Leipzig, Brockhaus. Die Tagebücher beginnen August 183S und gehen bis zum Ende des Jahres 1844. Nachdem Rachel gestorben war, der er alle seine Gedanken. Empfin¬ dungen und Einfälle getreulichst mittheilte, um sie von ihr berichtigen und idealisiren zu lassen, fühlte Varnhagen. trotz seines ausgebreiteten Umganges wahrscheinlich dringender das Bedürfniß, sich durch Niederschreiben dessen, was er erlebte und dachte, mit sich selbst ins Klare zu setzen. Durch das ganze Tagebuch zieht sich das Gefühl seines Verlustes, und bei allen seinen Plänen und Wünschen fragt er sich fortwährend, was wol Rahel dazu denken würde, wenn sie noch lebte. Das Tagebuch hat den doppelten Zweck, theils die Vorfälle des Tages zu notiren. theils seine Gedankenspähne aufzubewahren. Ueber die letzteren hat Varnhagen oft eine kindliche Freude und wundert sich über ihren guten Klang. Nicht ohne Ursache. Denn seine reiche Erfahrung gibt ihm Gesichts¬ punkte an die Hand, die nicht gerade auf der Heerstraße liegen, und er hat das ernstliche Bestreben, seine Gedanken zur Reife zu bringen. Die durchgehende Stimmung ist der Wechsel zwischen dem Wunsch, wie¬ der in Staatsangelegenheiten beschäftigt zu werden, und der Scheu, aus der Bequemlichkeit seiner behaglichen Muße herauszutreten. Gespannt lauscht er auf jedes Wort, aus dem er schließen könnte, man wolle ihn wieder in den Staatsdienst ziehen; er versichert zwar regelmäßig, er wolle und könne nicht darauf eingehen, er sei zu alt u. s. w.. aber der Wunsch schläft nicht ein, einige- male bricht sogar das Gefühl hervor, er sei eigentlich berufen noch etwas Großes zu wirken. Seine große Jahreszeit ist regelmäßig die Saison in Kissingen, dort trifft er mit hohen Herrschaften zusammen, mit Prinzessinnen u- s. w., die sich an Höflichkeit gegen ihn überbieten. Indeß an Beschäftigung fehlt es ihm auch in Berlin nicht: bald kommt ein junger Literat, der ihm mit tiefer Ehrfurcht seine Erstlingsversuche überreicht, bald ein vornehmer Mann, der von ihm verlangt, er solle ihm irgend eine Stelle aufschlagen; einmal muß er Metternich Auskunft darüber geben, was es mit dem jungen Deutsch-' land für eine Bewandtniß hat. Grenzboten IV. 1861. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/331>, abgerufen am 27.12.2024.