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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Die Volkstvirthschast und ihr Congreß.

Keine andere Lehre ist auf deutschem Boden in neuerer Zeit mehr in die
Breite -- nicht in die Tiefe -- gewachsen, als die Lehre von der Volkswirth¬
schaft, jenes Komplexes von Thätigkeiten, mittelst deren die Menschen, Ein¬
zelne und Gesellschaften, sich am Leben erhalten und Vermögen erwerben.
Wie der douigeoiL Muti1K"um<z nicht wenig überrascht war, als er von sei¬
nem Sprachlehrer erfuhr, daß er seit fünfzig Jahren "Prosa" spreche, so fühlt
sich jetzt der gute Deutsche gehoben, wenn er erfährt, daß er seit undenklichen
Zeiten "Volkswirthschaft" getrieben hat. Zwar ist es nicht erst seit gestern,
daß die Volkswirthschaft Gegenstand einer Wissenschaft ist. welche die Gesetze
ihres Wesens, ihrer Entwickelung und ihres Gedeihens HU erforschen strebt,
und von den Ergebnissen ihres Forschens geleitet, Sätze aufstellt, die den Re¬
gierungen und den Regierten sagen, was Nationalwohlstand, was ihm nütz¬
lich, was ihm schädlich ist. Aber die Menge kümmerte sich nicht um diese
Lehre, die auf den Kathedern vorgetragen und in Handbüchern niedergelegt,
in den Verwaltungen wie in den Gesetzen und Einrichtungen unter der Wucht
des Althergebrachten niedergehalten wurde. Dies ist anders geworden. Die
Lehre ist unter das Volk gedrungen, ihre Sätze werden ihm durch die Tages¬
presse, durch die freie öffentliche Rede in großen Versammlungen vermittelt,
und Regierungen dürfen es, ohne sehr unpopulär zu werden, wagen, Alther¬
gebrachtes umzuwerfen und Neues, dem heutigen Bedürfnisse Entsprechendes
unter dem Schutze des Gesetzes aufbauen zu lassen.

Es ist eine sehr verdienstliche und Nutzen stiftende Arbeit, dem Volke die
Erkenntniß über die Natur und die Bedingungen seines eigenen Schaffens
zugänglich zu machen. In der Wissenschaft stehen wenigstens die Hauptgrund¬
lagen sest; die Punkte, um welche die Gelehrten noch streiten in Bezug aus
Preis und Werth, Grundrente, Zins und Miethe, Theilbarkeit des Grund¬
besitzes, über die Frage, ob der Handel productiv sei oder nicht, ob auch die
Ausübung der gelehrten und künstlerischen Berufsarten nationalökonomisch zu
betrachten sei oder nicht, alle diese Punkte mögen bis an's Ende der Zeiten
streitig bleiben, es ist nicht nöthig, daß sie ausgetragen werden. Aber von


Grenzboten IV. 1S61. 1
Die Volkstvirthschast und ihr Congreß.

Keine andere Lehre ist auf deutschem Boden in neuerer Zeit mehr in die
Breite — nicht in die Tiefe — gewachsen, als die Lehre von der Volkswirth¬
schaft, jenes Komplexes von Thätigkeiten, mittelst deren die Menschen, Ein¬
zelne und Gesellschaften, sich am Leben erhalten und Vermögen erwerben.
Wie der douigeoiL Muti1K»um<z nicht wenig überrascht war, als er von sei¬
nem Sprachlehrer erfuhr, daß er seit fünfzig Jahren „Prosa" spreche, so fühlt
sich jetzt der gute Deutsche gehoben, wenn er erfährt, daß er seit undenklichen
Zeiten „Volkswirthschaft" getrieben hat. Zwar ist es nicht erst seit gestern,
daß die Volkswirthschaft Gegenstand einer Wissenschaft ist. welche die Gesetze
ihres Wesens, ihrer Entwickelung und ihres Gedeihens HU erforschen strebt,
und von den Ergebnissen ihres Forschens geleitet, Sätze aufstellt, die den Re¬
gierungen und den Regierten sagen, was Nationalwohlstand, was ihm nütz¬
lich, was ihm schädlich ist. Aber die Menge kümmerte sich nicht um diese
Lehre, die auf den Kathedern vorgetragen und in Handbüchern niedergelegt,
in den Verwaltungen wie in den Gesetzen und Einrichtungen unter der Wucht
des Althergebrachten niedergehalten wurde. Dies ist anders geworden. Die
Lehre ist unter das Volk gedrungen, ihre Sätze werden ihm durch die Tages¬
presse, durch die freie öffentliche Rede in großen Versammlungen vermittelt,
und Regierungen dürfen es, ohne sehr unpopulär zu werden, wagen, Alther¬
gebrachtes umzuwerfen und Neues, dem heutigen Bedürfnisse Entsprechendes
unter dem Schutze des Gesetzes aufbauen zu lassen.

Es ist eine sehr verdienstliche und Nutzen stiftende Arbeit, dem Volke die
Erkenntniß über die Natur und die Bedingungen seines eigenen Schaffens
zugänglich zu machen. In der Wissenschaft stehen wenigstens die Hauptgrund¬
lagen sest; die Punkte, um welche die Gelehrten noch streiten in Bezug aus
Preis und Werth, Grundrente, Zins und Miethe, Theilbarkeit des Grund¬
besitzes, über die Frage, ob der Handel productiv sei oder nicht, ob auch die
Ausübung der gelehrten und künstlerischen Berufsarten nationalökonomisch zu
betrachten sei oder nicht, alle diese Punkte mögen bis an's Ende der Zeiten
streitig bleiben, es ist nicht nöthig, daß sie ausgetragen werden. Aber von


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[0011] Die Volkstvirthschast und ihr Congreß. Keine andere Lehre ist auf deutschem Boden in neuerer Zeit mehr in die Breite — nicht in die Tiefe — gewachsen, als die Lehre von der Volkswirth¬ schaft, jenes Komplexes von Thätigkeiten, mittelst deren die Menschen, Ein¬ zelne und Gesellschaften, sich am Leben erhalten und Vermögen erwerben. Wie der douigeoiL Muti1K»um<z nicht wenig überrascht war, als er von sei¬ nem Sprachlehrer erfuhr, daß er seit fünfzig Jahren „Prosa" spreche, so fühlt sich jetzt der gute Deutsche gehoben, wenn er erfährt, daß er seit undenklichen Zeiten „Volkswirthschaft" getrieben hat. Zwar ist es nicht erst seit gestern, daß die Volkswirthschaft Gegenstand einer Wissenschaft ist. welche die Gesetze ihres Wesens, ihrer Entwickelung und ihres Gedeihens HU erforschen strebt, und von den Ergebnissen ihres Forschens geleitet, Sätze aufstellt, die den Re¬ gierungen und den Regierten sagen, was Nationalwohlstand, was ihm nütz¬ lich, was ihm schädlich ist. Aber die Menge kümmerte sich nicht um diese Lehre, die auf den Kathedern vorgetragen und in Handbüchern niedergelegt, in den Verwaltungen wie in den Gesetzen und Einrichtungen unter der Wucht des Althergebrachten niedergehalten wurde. Dies ist anders geworden. Die Lehre ist unter das Volk gedrungen, ihre Sätze werden ihm durch die Tages¬ presse, durch die freie öffentliche Rede in großen Versammlungen vermittelt, und Regierungen dürfen es, ohne sehr unpopulär zu werden, wagen, Alther¬ gebrachtes umzuwerfen und Neues, dem heutigen Bedürfnisse Entsprechendes unter dem Schutze des Gesetzes aufbauen zu lassen. Es ist eine sehr verdienstliche und Nutzen stiftende Arbeit, dem Volke die Erkenntniß über die Natur und die Bedingungen seines eigenen Schaffens zugänglich zu machen. In der Wissenschaft stehen wenigstens die Hauptgrund¬ lagen sest; die Punkte, um welche die Gelehrten noch streiten in Bezug aus Preis und Werth, Grundrente, Zins und Miethe, Theilbarkeit des Grund¬ besitzes, über die Frage, ob der Handel productiv sei oder nicht, ob auch die Ausübung der gelehrten und künstlerischen Berufsarten nationalökonomisch zu betrachten sei oder nicht, alle diese Punkte mögen bis an's Ende der Zeiten streitig bleiben, es ist nicht nöthig, daß sie ausgetragen werden. Aber von Grenzboten IV. 1S61. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/11>, abgerufen am 23.07.2024.