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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland im ersten
Drittel des siebzehnten Jahrhunderts.

Es ist eine sehr oft hervorgehobene Thatsache, daß gegen das Ende des
sechszehnten Jahrhunderts das religiös.sittliche Leben unsrer Nation, schon
lange nicht mehr von dem kräftigenden Idealismus der Reformationszeit
getragen, in Bahnen gerathen war, die man wenige Jahrzehnte vorher für
immer verlassen zu haben geglaubt hatte. Schon Luther, noch mehr aber
Melanchthon fühlte gegen Ende seines Lebens, daß eine Generation auf sie
folgen würde, als deren Väter sie sich nur mit großer Scham bekennen durften.
Die Gründe dieser Erscheinung liegen keineswegs in dem persönlichen Wirken
und Schaffen Derjenigen, welchen die Forderung der ethisch-religiösen Volks¬
interessen damals beinahe allein anvertraut war. d. h. in den persönlichen
Verhältnissen der Geistlichkeit. Wie hätte auch em Stand, der durch den um
mittelbaren Einfluß der Reformatoren befruchtet, berufen war die Reformation
Zum innern Gemeingute des Volks zu machen, in so ganz auffälliger Weise
seine Ausgabe mißverstehen können, wenn nicht Verhältnisse vorhanden gewesen
wären, die ganz außer dem Bereiche seines persönlichen sittlichen Wollens
lagen? Diese Verhältnisse aber müssen überhaupt in dem ganzen politisch-socialen
Zersetzungsprocesse des heiligen römischen Reichs deutscher Nation gesucht werden,
der von der Reformation nicht hervorgerufen, sondern nur beschleunigt worden
ist- und der nun um so rascher vorwärts schreitet, je mehr die neue Glaubens-
form alle Elemente des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens durchdringt.

AIs der fürstliche Absolutismus eingesehen hatte, einen wie großen Gewinn
ihm die Reformation brachte, machte er die Theologen hoffähig und entkleidete
l'e damit ihres volksthümlichen Gepräges, da sie sich in ihren neuen Stellungen
"n den Fürstenhöfen nur allzubald heimisch fühlten. Obgleich schon dadurch
steh bei der protestantischen Geistlichkeit ein hierarchisch-absolutistisches Treiben
hätte entwickeln müssen, so kam doch noch hinzu, daß der ersten und zweiten
Generation nach Luther mehr an der dogmatischen Sicherung und wissen-
Gastlichen Verarbeitung des neu erworbenen religiös-dogmatischen Stoffes.
^ an seiner speculativen Fortbildung liegen mußte. Der dürftige Anbau


Grenzboten III. 1361.
Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland im ersten
Drittel des siebzehnten Jahrhunderts.

Es ist eine sehr oft hervorgehobene Thatsache, daß gegen das Ende des
sechszehnten Jahrhunderts das religiös.sittliche Leben unsrer Nation, schon
lange nicht mehr von dem kräftigenden Idealismus der Reformationszeit
getragen, in Bahnen gerathen war, die man wenige Jahrzehnte vorher für
immer verlassen zu haben geglaubt hatte. Schon Luther, noch mehr aber
Melanchthon fühlte gegen Ende seines Lebens, daß eine Generation auf sie
folgen würde, als deren Väter sie sich nur mit großer Scham bekennen durften.
Die Gründe dieser Erscheinung liegen keineswegs in dem persönlichen Wirken
und Schaffen Derjenigen, welchen die Forderung der ethisch-religiösen Volks¬
interessen damals beinahe allein anvertraut war. d. h. in den persönlichen
Verhältnissen der Geistlichkeit. Wie hätte auch em Stand, der durch den um
mittelbaren Einfluß der Reformatoren befruchtet, berufen war die Reformation
Zum innern Gemeingute des Volks zu machen, in so ganz auffälliger Weise
seine Ausgabe mißverstehen können, wenn nicht Verhältnisse vorhanden gewesen
wären, die ganz außer dem Bereiche seines persönlichen sittlichen Wollens
lagen? Diese Verhältnisse aber müssen überhaupt in dem ganzen politisch-socialen
Zersetzungsprocesse des heiligen römischen Reichs deutscher Nation gesucht werden,
der von der Reformation nicht hervorgerufen, sondern nur beschleunigt worden
ist- und der nun um so rascher vorwärts schreitet, je mehr die neue Glaubens-
form alle Elemente des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens durchdringt.

AIs der fürstliche Absolutismus eingesehen hatte, einen wie großen Gewinn
ihm die Reformation brachte, machte er die Theologen hoffähig und entkleidete
l'e damit ihres volksthümlichen Gepräges, da sie sich in ihren neuen Stellungen
"n den Fürstenhöfen nur allzubald heimisch fühlten. Obgleich schon dadurch
steh bei der protestantischen Geistlichkeit ein hierarchisch-absolutistisches Treiben
hätte entwickeln müssen, so kam doch noch hinzu, daß der ersten und zweiten
Generation nach Luther mehr an der dogmatischen Sicherung und wissen-
Gastlichen Verarbeitung des neu erworbenen religiös-dogmatischen Stoffes.
^ an seiner speculativen Fortbildung liegen mußte. Der dürftige Anbau


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[0291] Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts. Es ist eine sehr oft hervorgehobene Thatsache, daß gegen das Ende des sechszehnten Jahrhunderts das religiös.sittliche Leben unsrer Nation, schon lange nicht mehr von dem kräftigenden Idealismus der Reformationszeit getragen, in Bahnen gerathen war, die man wenige Jahrzehnte vorher für immer verlassen zu haben geglaubt hatte. Schon Luther, noch mehr aber Melanchthon fühlte gegen Ende seines Lebens, daß eine Generation auf sie folgen würde, als deren Väter sie sich nur mit großer Scham bekennen durften. Die Gründe dieser Erscheinung liegen keineswegs in dem persönlichen Wirken und Schaffen Derjenigen, welchen die Forderung der ethisch-religiösen Volks¬ interessen damals beinahe allein anvertraut war. d. h. in den persönlichen Verhältnissen der Geistlichkeit. Wie hätte auch em Stand, der durch den um mittelbaren Einfluß der Reformatoren befruchtet, berufen war die Reformation Zum innern Gemeingute des Volks zu machen, in so ganz auffälliger Weise seine Ausgabe mißverstehen können, wenn nicht Verhältnisse vorhanden gewesen wären, die ganz außer dem Bereiche seines persönlichen sittlichen Wollens lagen? Diese Verhältnisse aber müssen überhaupt in dem ganzen politisch-socialen Zersetzungsprocesse des heiligen römischen Reichs deutscher Nation gesucht werden, der von der Reformation nicht hervorgerufen, sondern nur beschleunigt worden ist- und der nun um so rascher vorwärts schreitet, je mehr die neue Glaubens- form alle Elemente des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens durchdringt. AIs der fürstliche Absolutismus eingesehen hatte, einen wie großen Gewinn ihm die Reformation brachte, machte er die Theologen hoffähig und entkleidete l'e damit ihres volksthümlichen Gepräges, da sie sich in ihren neuen Stellungen "n den Fürstenhöfen nur allzubald heimisch fühlten. Obgleich schon dadurch steh bei der protestantischen Geistlichkeit ein hierarchisch-absolutistisches Treiben hätte entwickeln müssen, so kam doch noch hinzu, daß der ersten und zweiten Generation nach Luther mehr an der dogmatischen Sicherung und wissen- Gastlichen Verarbeitung des neu erworbenen religiös-dogmatischen Stoffes. ^ an seiner speculativen Fortbildung liegen mußte. Der dürftige Anbau Grenzboten III. 1361.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/291>, abgerufen am 13.11.2024.