Sitte wieder anarchische Regungen aufkamen. Eine sorgfältige Pflege der Wissenschaft und Kunst, ein politisches und sittliches allgemeines Leben, wel¬ ches den überzeugenden Nachweis führt, daß man die Tugend nicht blos aus Furcht vor der Hölle ausübt, verscheucht den Orthodoxismus und reinigt die Kirche, denn jenes Nachtgespenst kann das Licht und den Tag nicht ertragen.
Das ist es, was wir unter konservativer Opposition versteh": nicht etwa jenen Synkretismus der Vernunft und Unvernunft, der nur den Lügengcist stärkt, und die Menschen sittlich schwächt. Die Quelle des falschen Glaubens ist sittliche Schwäche und intellectuelle Unklarheit: engt diese ein, und ihr habt gethan, was eures Amtes ist. Und daß Strauß in diesem Sinn die Aufgabe wirklich faßt, hat er durch sein ganzes Leben gezeigt. Er hat sich nicht irren lassen durch den Sturm, den sein erstes Werk erregte, ein Werk, das er zur Beruhigung seines Gewissens und im wissenschaftlichen Interesse geschrieben hatte; er hat rüstig fortgearbeitet im Gebiet der Wissenschaft, er hat, so viel es in seinen Kräften lag. auf die schönen Zeiten unsrer Kunst hingewiesen; er hat seine Bürgerpflicht für den politischen Fortschritt erfüllt. Man hat seinen frühern Ausspruch: Cultus des Genius, auf eine ganz unsinnige Weise mißverstanden. Er meinte damit nicht die Vergötterung großer Individualitäten, noch viel weniger freilich die Schonung verrückter Genies, -- sondern er meinte die Pflege des lebendigen Geistes, der in allem Großen und Schönen sich offenbart, er meinte die Pflege desselben in der eignen Brust und in der Gemeinschaft mit den Menschen, er meinte den Anbau des Reiches Gottes im Denken, Empfinden und Handeln, er meinte den Cultus des historischen Christus! '
MsSu
Ausruf zu Beiträgen für Goethes Standbild.
Die Feier des zehnten Novembers hat tiefen Eindruck hinterlassen. Un¬ willkürlich keimten Wünsche und stiegen Verlangen auf. die bald nachher sich als laute Wünsche und Verlangen kund gaben. Allen Freunden deutscher Poesie mußte auf das Herz fallen, während Schillers Bildsäule mit lobens- werthem Eifer auszurichten beschlossen wurde, Goethe, dessen Andenken in den
45"
Sitte wieder anarchische Regungen aufkamen. Eine sorgfältige Pflege der Wissenschaft und Kunst, ein politisches und sittliches allgemeines Leben, wel¬ ches den überzeugenden Nachweis führt, daß man die Tugend nicht blos aus Furcht vor der Hölle ausübt, verscheucht den Orthodoxismus und reinigt die Kirche, denn jenes Nachtgespenst kann das Licht und den Tag nicht ertragen.
Das ist es, was wir unter konservativer Opposition versteh«: nicht etwa jenen Synkretismus der Vernunft und Unvernunft, der nur den Lügengcist stärkt, und die Menschen sittlich schwächt. Die Quelle des falschen Glaubens ist sittliche Schwäche und intellectuelle Unklarheit: engt diese ein, und ihr habt gethan, was eures Amtes ist. Und daß Strauß in diesem Sinn die Aufgabe wirklich faßt, hat er durch sein ganzes Leben gezeigt. Er hat sich nicht irren lassen durch den Sturm, den sein erstes Werk erregte, ein Werk, das er zur Beruhigung seines Gewissens und im wissenschaftlichen Interesse geschrieben hatte; er hat rüstig fortgearbeitet im Gebiet der Wissenschaft, er hat, so viel es in seinen Kräften lag. auf die schönen Zeiten unsrer Kunst hingewiesen; er hat seine Bürgerpflicht für den politischen Fortschritt erfüllt. Man hat seinen frühern Ausspruch: Cultus des Genius, auf eine ganz unsinnige Weise mißverstanden. Er meinte damit nicht die Vergötterung großer Individualitäten, noch viel weniger freilich die Schonung verrückter Genies, — sondern er meinte die Pflege des lebendigen Geistes, der in allem Großen und Schönen sich offenbart, er meinte die Pflege desselben in der eignen Brust und in der Gemeinschaft mit den Menschen, er meinte den Anbau des Reiches Gottes im Denken, Empfinden und Handeln, er meinte den Cultus des historischen Christus! '
MsSu
Ausruf zu Beiträgen für Goethes Standbild.
Die Feier des zehnten Novembers hat tiefen Eindruck hinterlassen. Un¬ willkürlich keimten Wünsche und stiegen Verlangen auf. die bald nachher sich als laute Wünsche und Verlangen kund gaben. Allen Freunden deutscher Poesie mußte auf das Herz fallen, während Schillers Bildsäule mit lobens- werthem Eifer auszurichten beschlossen wurde, Goethe, dessen Andenken in den
45"
<TEI><text><body><div><divn="1"><pbfacs="#f0367"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110173"/><pxml:id="ID_1079"prev="#ID_1078"> Sitte wieder anarchische Regungen aufkamen. Eine sorgfältige Pflege der<lb/>
Wissenschaft und Kunst, ein politisches und sittliches allgemeines Leben, wel¬<lb/>
ches den überzeugenden Nachweis führt, daß man die Tugend nicht blos aus<lb/>
Furcht vor der Hölle ausübt, verscheucht den Orthodoxismus und reinigt die<lb/>
Kirche, denn jenes Nachtgespenst kann das Licht und den Tag nicht ertragen.</p><lb/><pxml:id="ID_1080"> Das ist es, was wir unter konservativer Opposition versteh«: nicht etwa<lb/>
jenen Synkretismus der Vernunft und Unvernunft, der nur den Lügengcist<lb/>
stärkt, und die Menschen sittlich schwächt. Die Quelle des falschen Glaubens<lb/>
ist sittliche Schwäche und intellectuelle Unklarheit: engt diese ein, und ihr<lb/>
habt gethan, was eures Amtes ist. Und daß Strauß in diesem Sinn die<lb/>
Aufgabe wirklich faßt, hat er durch sein ganzes Leben gezeigt. Er hat sich<lb/>
nicht irren lassen durch den Sturm, den sein erstes Werk erregte, ein Werk,<lb/>
das er zur Beruhigung seines Gewissens und im wissenschaftlichen Interesse<lb/>
geschrieben hatte; er hat rüstig fortgearbeitet im Gebiet der Wissenschaft, er<lb/>
hat, so viel es in seinen Kräften lag. auf die schönen Zeiten unsrer Kunst<lb/>
hingewiesen; er hat seine Bürgerpflicht für den politischen Fortschritt erfüllt.<lb/>
Man hat seinen frühern Ausspruch: Cultus des Genius, auf eine ganz<lb/>
unsinnige Weise mißverstanden. Er meinte damit nicht die Vergötterung<lb/>
großer Individualitäten, noch viel weniger freilich die Schonung verrückter<lb/>
Genies, — sondern er meinte die Pflege des lebendigen Geistes, der in allem<lb/>
Großen und Schönen sich offenbart, er meinte die Pflege desselben in der<lb/>
eignen Brust und in der Gemeinschaft mit den Menschen, er meinte den<lb/>
Anbau des Reiches Gottes im Denken, Empfinden und Handeln, er meinte<lb/>
den Cultus des historischen Christus!<lb/>
'</p><lb/><notetype="byline"> MsSu</note><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/></div><divn="1"><head> Ausruf zu Beiträgen für Goethes Standbild.</head><lb/><pxml:id="ID_1081"next="#ID_1082"> Die Feier des zehnten Novembers hat tiefen Eindruck hinterlassen. Un¬<lb/>
willkürlich keimten Wünsche und stiegen Verlangen auf. die bald nachher sich<lb/>
als laute Wünsche und Verlangen kund gaben. Allen Freunden deutscher<lb/>
Poesie mußte auf das Herz fallen, während Schillers Bildsäule mit lobens-<lb/>
werthem Eifer auszurichten beschlossen wurde, Goethe, dessen Andenken in den</p><lb/><fwtype="sig"place="bottom"> 45"</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0367]
Sitte wieder anarchische Regungen aufkamen. Eine sorgfältige Pflege der
Wissenschaft und Kunst, ein politisches und sittliches allgemeines Leben, wel¬
ches den überzeugenden Nachweis führt, daß man die Tugend nicht blos aus
Furcht vor der Hölle ausübt, verscheucht den Orthodoxismus und reinigt die
Kirche, denn jenes Nachtgespenst kann das Licht und den Tag nicht ertragen.
Das ist es, was wir unter konservativer Opposition versteh«: nicht etwa
jenen Synkretismus der Vernunft und Unvernunft, der nur den Lügengcist
stärkt, und die Menschen sittlich schwächt. Die Quelle des falschen Glaubens
ist sittliche Schwäche und intellectuelle Unklarheit: engt diese ein, und ihr
habt gethan, was eures Amtes ist. Und daß Strauß in diesem Sinn die
Aufgabe wirklich faßt, hat er durch sein ganzes Leben gezeigt. Er hat sich
nicht irren lassen durch den Sturm, den sein erstes Werk erregte, ein Werk,
das er zur Beruhigung seines Gewissens und im wissenschaftlichen Interesse
geschrieben hatte; er hat rüstig fortgearbeitet im Gebiet der Wissenschaft, er
hat, so viel es in seinen Kräften lag. auf die schönen Zeiten unsrer Kunst
hingewiesen; er hat seine Bürgerpflicht für den politischen Fortschritt erfüllt.
Man hat seinen frühern Ausspruch: Cultus des Genius, auf eine ganz
unsinnige Weise mißverstanden. Er meinte damit nicht die Vergötterung
großer Individualitäten, noch viel weniger freilich die Schonung verrückter
Genies, — sondern er meinte die Pflege des lebendigen Geistes, der in allem
Großen und Schönen sich offenbart, er meinte die Pflege desselben in der
eignen Brust und in der Gemeinschaft mit den Menschen, er meinte den
Anbau des Reiches Gottes im Denken, Empfinden und Handeln, er meinte
den Cultus des historischen Christus!
'
MsSu
Ausruf zu Beiträgen für Goethes Standbild.
Die Feier des zehnten Novembers hat tiefen Eindruck hinterlassen. Un¬
willkürlich keimten Wünsche und stiegen Verlangen auf. die bald nachher sich
als laute Wünsche und Verlangen kund gaben. Allen Freunden deutscher
Poesie mußte auf das Herz fallen, während Schillers Bildsäule mit lobens-
werthem Eifer auszurichten beschlossen wurde, Goethe, dessen Andenken in den
45"
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/367>, abgerufen am 22.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.