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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Winnung des nächsten kleinen Gutes bedacht; sie dulden ebenso den Tod, als
eine Nothwendigkeit, der zu entgehen für ihr Leben sich kaum der Mühe lohnte;
denn welcher einzelnen Genüsse sie sich auch erinnern mögen, sie würden kaum
ein bleibendes und großes Gut in ihrem Dasein finden, das sie der Vernich¬
tung abstreiten müßten. Dieselbe Macht, die uns über so viele dunkle Ab¬
gründe des Lebens hinweghilft, mildert auch die melancholische Färbung dieser
Stimmung, ich meine die leichtsinnige Vergeßlichkeit, mit welcher die mensch¬
liche Seele gar verschiedene Gedankenkreise, einen nicht wissend vom andern,
nebeneinander beherbergt, und die uns befähigt, mit dem Hinterhalt einer so
geringen Meinung von dem Werthe unsers ganzen Lebens gleichwol uns voll
und ganz der vergänglichen Lust einzelner Momente hinzugeben.

Was hier als unmittelbares Gemeingefühl des Daseins auftrat, kehrt
durch Reflexion verfeinert und zu bewußtem Glauben gesteigert in zahllos
verschiedenen Formen theoretischer Ueberzeugungen wieder.




Von der preußischen Grenze.

Ob die französische Thronrede etwas zur Aufklärung der Situation beitragen
^'rd, muß sich in den nächsten Tagen zeigen; wir erwarten es kaum. Zu einer
offnen kriegerischen Demonstration wird sich der Kaiser schwerlich versteh" -- es liegt
^ auch nicht die kleinste Veranlassung vor, und Versicherungen der Friedensliebe
An Allgemeinen werden bei dem verschüchterten Publicum keinen Glauben finden,
-^us der Regierung ungefähr vorschwebt, spricht sich wol in der Broschüre von La
uerronniere aus, die neben einer Reihe dreister Unwahrheiten doch einzelne des
Nachdenkens werthe Bemerkungen enthält.
. Die Lage der Dinge ist in der That ganz unerhört; seit einem Monat ist En-
^°Pa in fieberhafter Aufregung, ohne daß man sich über den Grund Rechenschaft
^ben kann. Und diese Aufregung will mehr sagen, als die angenehme Abwechslung
Frost und Hitze bei einer Schaudcrerzählung: ein Staat nach dem andern sieht
!^ zu Rüstungen veranlaßt, die trotz der großen Verbesserung der Transportmittel
girier viel Geld kosten; die Börse ist im beständigen Fieber, und darüber geht das
Mnogen zahlloser Familien zu Grunde. Die Krisis der vorigen Jahre hatte sich
panisch entwickelt, das Unheil dagegen, das uns heute bedroht, ist muthwillig
^aufbeschworen. yuiäcMÄ ahura-ut reges, pleotuntur ^.obivi.

Und das Schlimmste ist, daß die Dinge bereits so weit gekommen zu sein
seinen, daß sie sich dem Willen und der Berechnung entziehn, sich durch ihre eigne
"se vorwärts wälzen. Vielleicht hat der Kaiser keinen Augenblick ernstlich an Krieg
^dacht: wird er, nachdem das kriegerische Feuer einmal angeregt ist, dem Eiser
^es Heers, wird er der Aufregung der Italiener Widerstand leisten können?


Grenjboten I. 1859. 35

Winnung des nächsten kleinen Gutes bedacht; sie dulden ebenso den Tod, als
eine Nothwendigkeit, der zu entgehen für ihr Leben sich kaum der Mühe lohnte;
denn welcher einzelnen Genüsse sie sich auch erinnern mögen, sie würden kaum
ein bleibendes und großes Gut in ihrem Dasein finden, das sie der Vernich¬
tung abstreiten müßten. Dieselbe Macht, die uns über so viele dunkle Ab¬
gründe des Lebens hinweghilft, mildert auch die melancholische Färbung dieser
Stimmung, ich meine die leichtsinnige Vergeßlichkeit, mit welcher die mensch¬
liche Seele gar verschiedene Gedankenkreise, einen nicht wissend vom andern,
nebeneinander beherbergt, und die uns befähigt, mit dem Hinterhalt einer so
geringen Meinung von dem Werthe unsers ganzen Lebens gleichwol uns voll
und ganz der vergänglichen Lust einzelner Momente hinzugeben.

Was hier als unmittelbares Gemeingefühl des Daseins auftrat, kehrt
durch Reflexion verfeinert und zu bewußtem Glauben gesteigert in zahllos
verschiedenen Formen theoretischer Ueberzeugungen wieder.




Von der preußischen Grenze.

Ob die französische Thronrede etwas zur Aufklärung der Situation beitragen
^'rd, muß sich in den nächsten Tagen zeigen; wir erwarten es kaum. Zu einer
offnen kriegerischen Demonstration wird sich der Kaiser schwerlich versteh« — es liegt
^ auch nicht die kleinste Veranlassung vor, und Versicherungen der Friedensliebe
An Allgemeinen werden bei dem verschüchterten Publicum keinen Glauben finden,
-^us der Regierung ungefähr vorschwebt, spricht sich wol in der Broschüre von La
uerronniere aus, die neben einer Reihe dreister Unwahrheiten doch einzelne des
Nachdenkens werthe Bemerkungen enthält.
. Die Lage der Dinge ist in der That ganz unerhört; seit einem Monat ist En-
^°Pa in fieberhafter Aufregung, ohne daß man sich über den Grund Rechenschaft
^ben kann. Und diese Aufregung will mehr sagen, als die angenehme Abwechslung
Frost und Hitze bei einer Schaudcrerzählung: ein Staat nach dem andern sieht
!^ zu Rüstungen veranlaßt, die trotz der großen Verbesserung der Transportmittel
girier viel Geld kosten; die Börse ist im beständigen Fieber, und darüber geht das
Mnogen zahlloser Familien zu Grunde. Die Krisis der vorigen Jahre hatte sich
panisch entwickelt, das Unheil dagegen, das uns heute bedroht, ist muthwillig
^aufbeschworen. yuiäcMÄ ahura-ut reges, pleotuntur ^.obivi.

Und das Schlimmste ist, daß die Dinge bereits so weit gekommen zu sein
seinen, daß sie sich dem Willen und der Berechnung entziehn, sich durch ihre eigne
"se vorwärts wälzen. Vielleicht hat der Kaiser keinen Augenblick ernstlich an Krieg
^dacht: wird er, nachdem das kriegerische Feuer einmal angeregt ist, dem Eiser
^es Heers, wird er der Aufregung der Italiener Widerstand leisten können?


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[0283] Winnung des nächsten kleinen Gutes bedacht; sie dulden ebenso den Tod, als eine Nothwendigkeit, der zu entgehen für ihr Leben sich kaum der Mühe lohnte; denn welcher einzelnen Genüsse sie sich auch erinnern mögen, sie würden kaum ein bleibendes und großes Gut in ihrem Dasein finden, das sie der Vernich¬ tung abstreiten müßten. Dieselbe Macht, die uns über so viele dunkle Ab¬ gründe des Lebens hinweghilft, mildert auch die melancholische Färbung dieser Stimmung, ich meine die leichtsinnige Vergeßlichkeit, mit welcher die mensch¬ liche Seele gar verschiedene Gedankenkreise, einen nicht wissend vom andern, nebeneinander beherbergt, und die uns befähigt, mit dem Hinterhalt einer so geringen Meinung von dem Werthe unsers ganzen Lebens gleichwol uns voll und ganz der vergänglichen Lust einzelner Momente hinzugeben. Was hier als unmittelbares Gemeingefühl des Daseins auftrat, kehrt durch Reflexion verfeinert und zu bewußtem Glauben gesteigert in zahllos verschiedenen Formen theoretischer Ueberzeugungen wieder. Von der preußischen Grenze. Ob die französische Thronrede etwas zur Aufklärung der Situation beitragen ^'rd, muß sich in den nächsten Tagen zeigen; wir erwarten es kaum. Zu einer offnen kriegerischen Demonstration wird sich der Kaiser schwerlich versteh« — es liegt ^ auch nicht die kleinste Veranlassung vor, und Versicherungen der Friedensliebe An Allgemeinen werden bei dem verschüchterten Publicum keinen Glauben finden, -^us der Regierung ungefähr vorschwebt, spricht sich wol in der Broschüre von La uerronniere aus, die neben einer Reihe dreister Unwahrheiten doch einzelne des Nachdenkens werthe Bemerkungen enthält. . Die Lage der Dinge ist in der That ganz unerhört; seit einem Monat ist En- ^°Pa in fieberhafter Aufregung, ohne daß man sich über den Grund Rechenschaft ^ben kann. Und diese Aufregung will mehr sagen, als die angenehme Abwechslung Frost und Hitze bei einer Schaudcrerzählung: ein Staat nach dem andern sieht !^ zu Rüstungen veranlaßt, die trotz der großen Verbesserung der Transportmittel girier viel Geld kosten; die Börse ist im beständigen Fieber, und darüber geht das Mnogen zahlloser Familien zu Grunde. Die Krisis der vorigen Jahre hatte sich panisch entwickelt, das Unheil dagegen, das uns heute bedroht, ist muthwillig ^aufbeschworen. yuiäcMÄ ahura-ut reges, pleotuntur ^.obivi. Und das Schlimmste ist, daß die Dinge bereits so weit gekommen zu sein seinen, daß sie sich dem Willen und der Berechnung entziehn, sich durch ihre eigne "se vorwärts wälzen. Vielleicht hat der Kaiser keinen Augenblick ernstlich an Krieg ^dacht: wird er, nachdem das kriegerische Feuer einmal angeregt ist, dem Eiser ^es Heers, wird er der Aufregung der Italiener Widerstand leisten können? Grenjboten I. 1859. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/283>, abgerufen am 24.07.2024.