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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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"El. el, meine Herrn, ist es auch recht, solche aufregende Strapazen
während der Cur zu unternehmen?!"




Marie Seebach.

Um die Geschichte der dramatischen Kunst in ihrem innern Zusammen"
sang richtig zu übersehen, müßte man nicht nur die Stücke nach ihrer Zeit¬
folge im Auge behalten, sondern auch die Art und Weise ihrer Darstellung.
Denn in jeder bedeutenden Periode des Theaters steht der Dichter mit dem
Schauspieler in lebendiger Wechselwirkung, der eine wird durch den andern
angeregt und zum Theil bestimmt, und wir würden manches Dichterwerk, für
dessen Verständniß wir jetzt weitläufige philosophische Motive zu Hilfe neh¬
men, unbefangener würdigen, wenn wir uns ein bestimmtes Bild von den
Künstlern machen könnten, deren Talent und Neigung den Dichtern vorschwebten.
Aber ein solches Unternehmen ist ebenso schwer als wünschenswert!), und
Schiller hatte nicht Unrecht, den Schauspieler zu beklagen, daß er nur sür den
Augenblick wirke, während der Dichter vor einem unverständigen Publicum
sich auf eine einsichtsvollere Nachwelt berufen könne. Namen großer Künstler
sind uns in hinlänglicher Zahl aufbewahrt, auch von ihren Liebesabenteuern
hat uns die Geschichte und die Sage hinlänglich unterrichtet; aber was für
uns die Hauptsache wäre, zu wissen, wie sie die Phantasiegemälde der Dichter
in Fleisch und Blut verwandelten, davon erfahren wir nur sehr Weniges und
Unzusammenhängendes. Diesen Mangel an bestimmten Nachrichten empfin¬
den wir z. B. auch in dem besten Buch dieser Art, in Eduard Devrients
Geschichte des deutschen Theaters. Was Fleiß, gesunde Schule, Scharfsinn
und liebevolles Nachdenken aus dem Stoff machen konnten, ist hier geleistet;
aber ein Bild, welches nur die Augen wirklich überliefern, kann das gelehrte
Studium nicht ergänzen.

Zum Theil liegt dieser Mangel gleichzeitiger Nachrichten an der Gedanken¬
losigkeit der Berichterstatter, aber die Sache hat auch ihre innern Schwierig¬
keiten. So gewissenhaft man sich bemüht, den allgemeinen Eindruck wieder¬
zugeben, den eine bedeutende künstlerische Persönlichkeit aus den Zuschauer
macht, so ausführlich man beschreibt, so sorgfältig man analysirt: das Beste
kann man doch nicht überliefern. Die technischen Hilfsmittel, die Einwirkung
des Verstandes und was sonst der Analyse unterworfen ist, das läßt sich wol
wiedergeben; aber den springenden Punkt, das eigentlich Geniale des Künst¬
lers kann man nur empfinden, nicht zerlegen.


„El. el, meine Herrn, ist es auch recht, solche aufregende Strapazen
während der Cur zu unternehmen?!"




Marie Seebach.

Um die Geschichte der dramatischen Kunst in ihrem innern Zusammen«
sang richtig zu übersehen, müßte man nicht nur die Stücke nach ihrer Zeit¬
folge im Auge behalten, sondern auch die Art und Weise ihrer Darstellung.
Denn in jeder bedeutenden Periode des Theaters steht der Dichter mit dem
Schauspieler in lebendiger Wechselwirkung, der eine wird durch den andern
angeregt und zum Theil bestimmt, und wir würden manches Dichterwerk, für
dessen Verständniß wir jetzt weitläufige philosophische Motive zu Hilfe neh¬
men, unbefangener würdigen, wenn wir uns ein bestimmtes Bild von den
Künstlern machen könnten, deren Talent und Neigung den Dichtern vorschwebten.
Aber ein solches Unternehmen ist ebenso schwer als wünschenswert!), und
Schiller hatte nicht Unrecht, den Schauspieler zu beklagen, daß er nur sür den
Augenblick wirke, während der Dichter vor einem unverständigen Publicum
sich auf eine einsichtsvollere Nachwelt berufen könne. Namen großer Künstler
sind uns in hinlänglicher Zahl aufbewahrt, auch von ihren Liebesabenteuern
hat uns die Geschichte und die Sage hinlänglich unterrichtet; aber was für
uns die Hauptsache wäre, zu wissen, wie sie die Phantasiegemälde der Dichter
in Fleisch und Blut verwandelten, davon erfahren wir nur sehr Weniges und
Unzusammenhängendes. Diesen Mangel an bestimmten Nachrichten empfin¬
den wir z. B. auch in dem besten Buch dieser Art, in Eduard Devrients
Geschichte des deutschen Theaters. Was Fleiß, gesunde Schule, Scharfsinn
und liebevolles Nachdenken aus dem Stoff machen konnten, ist hier geleistet;
aber ein Bild, welches nur die Augen wirklich überliefern, kann das gelehrte
Studium nicht ergänzen.

Zum Theil liegt dieser Mangel gleichzeitiger Nachrichten an der Gedanken¬
losigkeit der Berichterstatter, aber die Sache hat auch ihre innern Schwierig¬
keiten. So gewissenhaft man sich bemüht, den allgemeinen Eindruck wieder¬
zugeben, den eine bedeutende künstlerische Persönlichkeit aus den Zuschauer
macht, so ausführlich man beschreibt, so sorgfältig man analysirt: das Beste
kann man doch nicht überliefern. Die technischen Hilfsmittel, die Einwirkung
des Verstandes und was sonst der Analyse unterworfen ist, das läßt sich wol
wiedergeben; aber den springenden Punkt, das eigentlich Geniale des Künst¬
lers kann man nur empfinden, nicht zerlegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/76>, abgerufen am 22.07.2024.