Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Die doktrinäre Theologie zu Anfang des 19. Jahrhunderts.*)

Nachdem in Deutschland fast zwei Jahrhunderte hindurch alle geistigen
Kräfte der Theologie gedient, schien es, als ob das neu aufblühende Leben
unsrer Literatur sich von der Kirche ganz lösen wolle. Die neue Kunst ver¬
tiefte sich in das griechische Alterthum, und die Theologie verkümmerte in
ihren beiden Hauptformen., der Orthodoxie und dem Nationalismus, in einem
todten Formenwesen, welches der Macht des neuen Geistes in keiner Weise
gewachsen war. Es schien, als ob sich zum zweiten Mal zwei Welten von¬
einander scheiden wollten, die Kirche und das Laienthum, jede von einem
verschiedenen Bildungselement ausgehend und einander gleichgiltig, wo nicht
feindlich gegenüberstehend. Allein je mehr die weltliche Bildung sich vertiefte,
desto lebhafter wurde auch bei ihr das religiöse Bedürfniß, und wahrend sie
früher ihre Stoffe vom Christenthum entlehnt hatte, war sie jetzt in der Lage,
ihrerseits das Christenthum zu bereichern. Diese Reform zeigt sich nach drei
verschiedenen Seiten.

Zunächst wurde der innere Sinn und das Bedürfniß des Herzens geweckt.
Der Sprung von der alten zur neuen Zeit war doch nicht so groß, als es
den Anschein hatte. In ihrem ersten Ursprung war die deutsche Poesie ein
auf das Weltliche übertragener verfeinerter Pietismus, der nach edlen und
gebildeten Formen suchte. In diesem Sinn verklärte Klopstock das religiöse
Gefühl, in diesem Sinn sprachen Hamann, Lavater, Jacobi die Sehnsucht des
Herzens nach religiösen Stimmungen aus. Auf diesem Standpunkt, den
vielleicht am vollständigsten Schleiermacher in seinen Reden über die Re¬
ligion ausspricht, war die Religion ganz innerlich und individuell; jede schöne
Seele suchte ihren eignen Mittler zum absoluten Wesen, und wenn sie sich
den historischen Mittler gefallen ließ, so nahm sie doch von diesem nur so
viel, als sich für ihr individuelles Bedürfniß schickte.



") Gewissermaßen eine Fortsetzung zu den Studien über Creuzer.
Grenzboten III. 13S3.51
Die doktrinäre Theologie zu Anfang des 19. Jahrhunderts.*)

Nachdem in Deutschland fast zwei Jahrhunderte hindurch alle geistigen
Kräfte der Theologie gedient, schien es, als ob das neu aufblühende Leben
unsrer Literatur sich von der Kirche ganz lösen wolle. Die neue Kunst ver¬
tiefte sich in das griechische Alterthum, und die Theologie verkümmerte in
ihren beiden Hauptformen., der Orthodoxie und dem Nationalismus, in einem
todten Formenwesen, welches der Macht des neuen Geistes in keiner Weise
gewachsen war. Es schien, als ob sich zum zweiten Mal zwei Welten von¬
einander scheiden wollten, die Kirche und das Laienthum, jede von einem
verschiedenen Bildungselement ausgehend und einander gleichgiltig, wo nicht
feindlich gegenüberstehend. Allein je mehr die weltliche Bildung sich vertiefte,
desto lebhafter wurde auch bei ihr das religiöse Bedürfniß, und wahrend sie
früher ihre Stoffe vom Christenthum entlehnt hatte, war sie jetzt in der Lage,
ihrerseits das Christenthum zu bereichern. Diese Reform zeigt sich nach drei
verschiedenen Seiten.

Zunächst wurde der innere Sinn und das Bedürfniß des Herzens geweckt.
Der Sprung von der alten zur neuen Zeit war doch nicht so groß, als es
den Anschein hatte. In ihrem ersten Ursprung war die deutsche Poesie ein
auf das Weltliche übertragener verfeinerter Pietismus, der nach edlen und
gebildeten Formen suchte. In diesem Sinn verklärte Klopstock das religiöse
Gefühl, in diesem Sinn sprachen Hamann, Lavater, Jacobi die Sehnsucht des
Herzens nach religiösen Stimmungen aus. Auf diesem Standpunkt, den
vielleicht am vollständigsten Schleiermacher in seinen Reden über die Re¬
ligion ausspricht, war die Religion ganz innerlich und individuell; jede schöne
Seele suchte ihren eignen Mittler zum absoluten Wesen, und wenn sie sich
den historischen Mittler gefallen ließ, so nahm sie doch von diesem nur so
viel, als sich für ihr individuelles Bedürfniß schickte.



") Gewissermaßen eine Fortsetzung zu den Studien über Creuzer.
Grenzboten III. 13S3.51
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/106220"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die doktrinäre Theologie zu Anfang des 19. Jahrhunderts.*)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1147"> Nachdem in Deutschland fast zwei Jahrhunderte hindurch alle geistigen<lb/>
Kräfte der Theologie gedient, schien es, als ob das neu aufblühende Leben<lb/>
unsrer Literatur sich von der Kirche ganz lösen wolle. Die neue Kunst ver¬<lb/>
tiefte sich in das griechische Alterthum, und die Theologie verkümmerte in<lb/>
ihren beiden Hauptformen., der Orthodoxie und dem Nationalismus, in einem<lb/>
todten Formenwesen, welches der Macht des neuen Geistes in keiner Weise<lb/>
gewachsen war. Es schien, als ob sich zum zweiten Mal zwei Welten von¬<lb/>
einander scheiden wollten, die Kirche und das Laienthum, jede von einem<lb/>
verschiedenen Bildungselement ausgehend und einander gleichgiltig, wo nicht<lb/>
feindlich gegenüberstehend. Allein je mehr die weltliche Bildung sich vertiefte,<lb/>
desto lebhafter wurde auch bei ihr das religiöse Bedürfniß, und wahrend sie<lb/>
früher ihre Stoffe vom Christenthum entlehnt hatte, war sie jetzt in der Lage,<lb/>
ihrerseits das Christenthum zu bereichern. Diese Reform zeigt sich nach drei<lb/>
verschiedenen Seiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1148"> Zunächst wurde der innere Sinn und das Bedürfniß des Herzens geweckt.<lb/>
Der Sprung von der alten zur neuen Zeit war doch nicht so groß, als es<lb/>
den Anschein hatte. In ihrem ersten Ursprung war die deutsche Poesie ein<lb/>
auf das Weltliche übertragener verfeinerter Pietismus, der nach edlen und<lb/>
gebildeten Formen suchte. In diesem Sinn verklärte Klopstock das religiöse<lb/>
Gefühl, in diesem Sinn sprachen Hamann, Lavater, Jacobi die Sehnsucht des<lb/>
Herzens nach religiösen Stimmungen aus. Auf diesem Standpunkt, den<lb/>
vielleicht am vollständigsten Schleiermacher in seinen Reden über die Re¬<lb/>
ligion ausspricht, war die Religion ganz innerlich und individuell; jede schöne<lb/>
Seele suchte ihren eignen Mittler zum absoluten Wesen, und wenn sie sich<lb/>
den historischen Mittler gefallen ließ, so nahm sie doch von diesem nur so<lb/>
viel, als sich für ihr individuelles Bedürfniß schickte.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_28" place="foot"> ") Gewissermaßen eine Fortsetzung zu den Studien über Creuzer.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 13S3.51</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] Die doktrinäre Theologie zu Anfang des 19. Jahrhunderts.*) Nachdem in Deutschland fast zwei Jahrhunderte hindurch alle geistigen Kräfte der Theologie gedient, schien es, als ob das neu aufblühende Leben unsrer Literatur sich von der Kirche ganz lösen wolle. Die neue Kunst ver¬ tiefte sich in das griechische Alterthum, und die Theologie verkümmerte in ihren beiden Hauptformen., der Orthodoxie und dem Nationalismus, in einem todten Formenwesen, welches der Macht des neuen Geistes in keiner Weise gewachsen war. Es schien, als ob sich zum zweiten Mal zwei Welten von¬ einander scheiden wollten, die Kirche und das Laienthum, jede von einem verschiedenen Bildungselement ausgehend und einander gleichgiltig, wo nicht feindlich gegenüberstehend. Allein je mehr die weltliche Bildung sich vertiefte, desto lebhafter wurde auch bei ihr das religiöse Bedürfniß, und wahrend sie früher ihre Stoffe vom Christenthum entlehnt hatte, war sie jetzt in der Lage, ihrerseits das Christenthum zu bereichern. Diese Reform zeigt sich nach drei verschiedenen Seiten. Zunächst wurde der innere Sinn und das Bedürfniß des Herzens geweckt. Der Sprung von der alten zur neuen Zeit war doch nicht so groß, als es den Anschein hatte. In ihrem ersten Ursprung war die deutsche Poesie ein auf das Weltliche übertragener verfeinerter Pietismus, der nach edlen und gebildeten Formen suchte. In diesem Sinn verklärte Klopstock das religiöse Gefühl, in diesem Sinn sprachen Hamann, Lavater, Jacobi die Sehnsucht des Herzens nach religiösen Stimmungen aus. Auf diesem Standpunkt, den vielleicht am vollständigsten Schleiermacher in seinen Reden über die Re¬ ligion ausspricht, war die Religion ganz innerlich und individuell; jede schöne Seele suchte ihren eignen Mittler zum absoluten Wesen, und wenn sie sich den historischen Mittler gefallen ließ, so nahm sie doch von diesem nur so viel, als sich für ihr individuelles Bedürfniß schickte. ") Gewissermaßen eine Fortsetzung zu den Studien über Creuzer. Grenzboten III. 13S3.51

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/409>, abgerufen am 03.07.2024.