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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Staatsmanns ^. nicht aus der lebendigen Einsicht, sondern aus einer todten
Doctrin hervorgeht.


I. S.


Korrespondenzen.
Ans Äonstlttltillopel

-- Expeditio n wider Persien. --
Die bevorstehende Expedition wider Persien hat, wie ich aus englischen Blättern
ersehe, nicht die Majorität in der öffentlichen Meinung Englands sür sich. Man
kann diesem Verwersinlgsurtheil sich unter gewissen Bedingungen anschließen. Zu¬
nächst ist,es klar, daß der gegenwärtige Augenblick zu einem entscheidenden Ein¬
greifen der britischen Politik in die Geschicke Vorderasiens etwas verfrüht erscheinen
muß. Weder ist England für die Durchführung solches Unternehmens gegenwärtig
besser firuirt, als es vor fünf oder zehn Jahren gewesen, noch sind die ihm ent¬
gegenwirkenden Kräfte auf dem betreffenden Felde heute schwächer, wie zu jener
Zeit. Dagegen ist mit Sicherheit vorauszusehen, daß nach neu verflossenen fünf
oder sechs Jahren Großbritanniens Stellung gegenüber dem persischen Schah und
den sein Gebiet berührenden Ländern wirklich eine andere, und in vielen Bezie¬
hungen günstigere sein wird. In jenen Tagen nämlich werden nicht nur die indi¬
schen Eisenbahnen, an denen man jetzt arbeitet, und die, wiewol hauptsächlich sür
Handclszwccke angelegt, dennoch eine sehr große strategische Bedeutung nicht aus¬
schließen, vollendet sei", sondern auch die Thalbahn des Euphrat wird mindestens
auf der Strecke zwischen dem Mittelmeere und Jafer Castle (Jschabcr Castle oder
Kaie den Balis) vollendet und möglicherweise noch weiter, vielleicht bis Bagdad
geführt sein. Dieser Moment wäre dann mehr wie irgend ein vorausgegangener,
und vielleicht auch besser als jeder der nachfolgenden dazu geeignet, um Eng¬
lands Kräfte zu dem großen Entscheidungskampfe, den es zwischen Rußland und
Britannien um die erwähnten Gebiete auszustreiten gilt, in das Feld zu führen.
Denn -- das wolle man nicht vergessen!-- um jene Zeit wird der Zar noch nicht
irgend einen bedeutenden Vortheil aus deu Bahnbauten ziehen können, die eben
durch das Gouvernement zu Se. Petersburg ausgeschrieben worden sind. Sie er¬
strecken sich aus das eigentliche (europäische) Nuß land, greifen in das hier allein in
Frage kommende Gebiet, das kaukasische und transkaukasische, nicht hinein, und
werden nach Analogie der Zeit, deren man zur Herstellung der Schiencnlinie
zwischen der Newa und Moskau bedürfte, mindestens zwölf bis fünfzehn Jahre zu,
ihrer Vollendung bedürfen.

Wiewol diese Verhältnisse sich unschwer durchblicken lassen, scheint es dennoch,
daß Englands leitende Politiker sie übersehen haben und entschlossen sind, mit
großen Opfern, unter einer Aufwendung verhältnißmäßig bedeutender Mittel, ein
Werk in Angriff zu nehmen, welches im nachstehenden Jahrzehnt mit geringern
Schwierigkeiten sich vollende" lassen würde.

Ich stelle mich, indem ich diese meine Ueberzeugung hier ausspreche, durchaus
nicht auf den Boden derjenigen englischen Blätter (auch die Times war unter ihnen),


Staatsmanns ^. nicht aus der lebendigen Einsicht, sondern aus einer todten
Doctrin hervorgeht.


I. S.


Korrespondenzen.
Ans Äonstlttltillopel

— Expeditio n wider Persien. —
Die bevorstehende Expedition wider Persien hat, wie ich aus englischen Blättern
ersehe, nicht die Majorität in der öffentlichen Meinung Englands sür sich. Man
kann diesem Verwersinlgsurtheil sich unter gewissen Bedingungen anschließen. Zu¬
nächst ist,es klar, daß der gegenwärtige Augenblick zu einem entscheidenden Ein¬
greifen der britischen Politik in die Geschicke Vorderasiens etwas verfrüht erscheinen
muß. Weder ist England für die Durchführung solches Unternehmens gegenwärtig
besser firuirt, als es vor fünf oder zehn Jahren gewesen, noch sind die ihm ent¬
gegenwirkenden Kräfte auf dem betreffenden Felde heute schwächer, wie zu jener
Zeit. Dagegen ist mit Sicherheit vorauszusehen, daß nach neu verflossenen fünf
oder sechs Jahren Großbritanniens Stellung gegenüber dem persischen Schah und
den sein Gebiet berührenden Ländern wirklich eine andere, und in vielen Bezie¬
hungen günstigere sein wird. In jenen Tagen nämlich werden nicht nur die indi¬
schen Eisenbahnen, an denen man jetzt arbeitet, und die, wiewol hauptsächlich sür
Handclszwccke angelegt, dennoch eine sehr große strategische Bedeutung nicht aus¬
schließen, vollendet sei», sondern auch die Thalbahn des Euphrat wird mindestens
auf der Strecke zwischen dem Mittelmeere und Jafer Castle (Jschabcr Castle oder
Kaie den Balis) vollendet und möglicherweise noch weiter, vielleicht bis Bagdad
geführt sein. Dieser Moment wäre dann mehr wie irgend ein vorausgegangener,
und vielleicht auch besser als jeder der nachfolgenden dazu geeignet, um Eng¬
lands Kräfte zu dem großen Entscheidungskampfe, den es zwischen Rußland und
Britannien um die erwähnten Gebiete auszustreiten gilt, in das Feld zu führen.
Denn — das wolle man nicht vergessen!— um jene Zeit wird der Zar noch nicht
irgend einen bedeutenden Vortheil aus deu Bahnbauten ziehen können, die eben
durch das Gouvernement zu Se. Petersburg ausgeschrieben worden sind. Sie er¬
strecken sich aus das eigentliche (europäische) Nuß land, greifen in das hier allein in
Frage kommende Gebiet, das kaukasische und transkaukasische, nicht hinein, und
werden nach Analogie der Zeit, deren man zur Herstellung der Schiencnlinie
zwischen der Newa und Moskau bedürfte, mindestens zwölf bis fünfzehn Jahre zu,
ihrer Vollendung bedürfen.

Wiewol diese Verhältnisse sich unschwer durchblicken lassen, scheint es dennoch,
daß Englands leitende Politiker sie übersehen haben und entschlossen sind, mit
großen Opfern, unter einer Aufwendung verhältnißmäßig bedeutender Mittel, ein
Werk in Angriff zu nehmen, welches im nachstehenden Jahrzehnt mit geringern
Schwierigkeiten sich vollende» lassen würde.

Ich stelle mich, indem ich diese meine Ueberzeugung hier ausspreche, durchaus
nicht auf den Boden derjenigen englischen Blätter (auch die Times war unter ihnen),


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[0440] Staatsmanns ^. nicht aus der lebendigen Einsicht, sondern aus einer todten Doctrin hervorgeht. I. S. Korrespondenzen. Ans Äonstlttltillopel — Expeditio n wider Persien. — Die bevorstehende Expedition wider Persien hat, wie ich aus englischen Blättern ersehe, nicht die Majorität in der öffentlichen Meinung Englands sür sich. Man kann diesem Verwersinlgsurtheil sich unter gewissen Bedingungen anschließen. Zu¬ nächst ist,es klar, daß der gegenwärtige Augenblick zu einem entscheidenden Ein¬ greifen der britischen Politik in die Geschicke Vorderasiens etwas verfrüht erscheinen muß. Weder ist England für die Durchführung solches Unternehmens gegenwärtig besser firuirt, als es vor fünf oder zehn Jahren gewesen, noch sind die ihm ent¬ gegenwirkenden Kräfte auf dem betreffenden Felde heute schwächer, wie zu jener Zeit. Dagegen ist mit Sicherheit vorauszusehen, daß nach neu verflossenen fünf oder sechs Jahren Großbritanniens Stellung gegenüber dem persischen Schah und den sein Gebiet berührenden Ländern wirklich eine andere, und in vielen Bezie¬ hungen günstigere sein wird. In jenen Tagen nämlich werden nicht nur die indi¬ schen Eisenbahnen, an denen man jetzt arbeitet, und die, wiewol hauptsächlich sür Handclszwccke angelegt, dennoch eine sehr große strategische Bedeutung nicht aus¬ schließen, vollendet sei», sondern auch die Thalbahn des Euphrat wird mindestens auf der Strecke zwischen dem Mittelmeere und Jafer Castle (Jschabcr Castle oder Kaie den Balis) vollendet und möglicherweise noch weiter, vielleicht bis Bagdad geführt sein. Dieser Moment wäre dann mehr wie irgend ein vorausgegangener, und vielleicht auch besser als jeder der nachfolgenden dazu geeignet, um Eng¬ lands Kräfte zu dem großen Entscheidungskampfe, den es zwischen Rußland und Britannien um die erwähnten Gebiete auszustreiten gilt, in das Feld zu führen. Denn — das wolle man nicht vergessen!— um jene Zeit wird der Zar noch nicht irgend einen bedeutenden Vortheil aus deu Bahnbauten ziehen können, die eben durch das Gouvernement zu Se. Petersburg ausgeschrieben worden sind. Sie er¬ strecken sich aus das eigentliche (europäische) Nuß land, greifen in das hier allein in Frage kommende Gebiet, das kaukasische und transkaukasische, nicht hinein, und werden nach Analogie der Zeit, deren man zur Herstellung der Schiencnlinie zwischen der Newa und Moskau bedürfte, mindestens zwölf bis fünfzehn Jahre zu, ihrer Vollendung bedürfen. Wiewol diese Verhältnisse sich unschwer durchblicken lassen, scheint es dennoch, daß Englands leitende Politiker sie übersehen haben und entschlossen sind, mit großen Opfern, unter einer Aufwendung verhältnißmäßig bedeutender Mittel, ein Werk in Angriff zu nehmen, welches im nachstehenden Jahrzehnt mit geringern Schwierigkeiten sich vollende» lassen würde. Ich stelle mich, indem ich diese meine Ueberzeugung hier ausspreche, durchaus nicht auf den Boden derjenigen englischen Blätter (auch die Times war unter ihnen),

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/440>, abgerufen am 23.07.2024.