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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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wir hinlänglich gelernt, waS es mit den Ueberschwenglichkeiten des Gefühls
auf sich hat, und wir begreisen jetzt, daß sich zuweilen auch hinter einem spöt¬
tischen Aeußern eine ganz ernste Ueberzeugung versteckt.




Franz Bacon bon Vernimm>

Die Realphilosophie und ihr Zeitalter. Von Kuno Fischer. Leipzig, Brockhaus.

Seitdem die idealistische Philosophie in Deutschland durch ihre innige
Verbindung mit den Dichtern und Künstlern ein so stolzes Selbstgefühl gewann,
hat sie gegen ihre realistische Schwester in England die größte Geringschätzung
entwickelt. Man hat sämmtliche Philosophen jenseit des Kanals sür bornirte
Köpfe ausgegeben, für unfähig, irgend eins der tiefern Geheimnisse der Meta¬
physik zu ergründen. Man hat von drüben her mit entsprechenden Vorwürfen
geantwortet, und jeder deutsche Philosoph gilt in England als ein unprak¬
tischer Träumer und Phantast. Es ist jetzt um so mehr Zeit, daß die beiden
getrennten Disciplinen aus ihrer Einseitigkeit heraustreten und wieder ernstlich
daran denken, voneinander Notiz zu nehmen, da ihr gesondertes Dasein augen¬
scheinlich mehr und mehr verkümmert. Dem deutschen Idealismus, aus dessen
Schule der Verfasser der vorliegenden Schrift hervorgegangen ist, ein Ver¬
ständniß der englischen Realphilosophie zu eröffnen, ist der Nächstliegende Zweck
seines Unternehmens.

Er versucht zunächst, die wunderbaren Widersprüche auszugleichen, die
zwischen dem sittlichen und dem wissenschaftlichen Charakter Lord Bacons zu
bestehen scheinen, Widersprüche, auf welche namentlich Macaulay in seiner be¬
rühmten Abhandlung aufmerksam gemacht hat. Es gelingt ihm das nicht
ganz, weil er zu viel beweisen will. "Bacons Charakter war so praktisch, so
nüchtern, so geschmeidig, als die Wissenschaft, die er begehrte und seinem Zeit¬
alter vorschrieb." Das ist ein brillanter Einfall, aber keine haltbare Argu¬
mentation. Es ist in solchen Fällen zweckmäßiger, vor dem Unverständlichen
stehen zu bleiben, als zu viel verstehen zu wollen. Kuno Fischer ist noch zu
sehr deutscher Idealist, und er hätte doch aus seinem eignen Werk lernen
sollen, daß in empirischen Angelegenheiten die Syllogistik nichts fruchtet.

Desto gelungener scheint uns der andre Theil der Einleitung zu sein, in
welchem nachgewiesen wird, wie die baconische Philosophie mit dem Geist des
Zeitalters in innigster Uebereinstimmung stand. Lord Bacon wollte für das
neue Leben und dessen Bildungstriebe die neue ihm entsprechende Logik finden-
Die Reformen des Zeitalters gründeten sich auf die großen Erfindungen des
Pulvers, der Buchdruckerkunst und des Compasses, und demgemäß will Bacon


wir hinlänglich gelernt, waS es mit den Ueberschwenglichkeiten des Gefühls
auf sich hat, und wir begreisen jetzt, daß sich zuweilen auch hinter einem spöt¬
tischen Aeußern eine ganz ernste Ueberzeugung versteckt.




Franz Bacon bon Vernimm>

Die Realphilosophie und ihr Zeitalter. Von Kuno Fischer. Leipzig, Brockhaus.

Seitdem die idealistische Philosophie in Deutschland durch ihre innige
Verbindung mit den Dichtern und Künstlern ein so stolzes Selbstgefühl gewann,
hat sie gegen ihre realistische Schwester in England die größte Geringschätzung
entwickelt. Man hat sämmtliche Philosophen jenseit des Kanals sür bornirte
Köpfe ausgegeben, für unfähig, irgend eins der tiefern Geheimnisse der Meta¬
physik zu ergründen. Man hat von drüben her mit entsprechenden Vorwürfen
geantwortet, und jeder deutsche Philosoph gilt in England als ein unprak¬
tischer Träumer und Phantast. Es ist jetzt um so mehr Zeit, daß die beiden
getrennten Disciplinen aus ihrer Einseitigkeit heraustreten und wieder ernstlich
daran denken, voneinander Notiz zu nehmen, da ihr gesondertes Dasein augen¬
scheinlich mehr und mehr verkümmert. Dem deutschen Idealismus, aus dessen
Schule der Verfasser der vorliegenden Schrift hervorgegangen ist, ein Ver¬
ständniß der englischen Realphilosophie zu eröffnen, ist der Nächstliegende Zweck
seines Unternehmens.

Er versucht zunächst, die wunderbaren Widersprüche auszugleichen, die
zwischen dem sittlichen und dem wissenschaftlichen Charakter Lord Bacons zu
bestehen scheinen, Widersprüche, auf welche namentlich Macaulay in seiner be¬
rühmten Abhandlung aufmerksam gemacht hat. Es gelingt ihm das nicht
ganz, weil er zu viel beweisen will. „Bacons Charakter war so praktisch, so
nüchtern, so geschmeidig, als die Wissenschaft, die er begehrte und seinem Zeit¬
alter vorschrieb." Das ist ein brillanter Einfall, aber keine haltbare Argu¬
mentation. Es ist in solchen Fällen zweckmäßiger, vor dem Unverständlichen
stehen zu bleiben, als zu viel verstehen zu wollen. Kuno Fischer ist noch zu
sehr deutscher Idealist, und er hätte doch aus seinem eignen Werk lernen
sollen, daß in empirischen Angelegenheiten die Syllogistik nichts fruchtet.

Desto gelungener scheint uns der andre Theil der Einleitung zu sein, in
welchem nachgewiesen wird, wie die baconische Philosophie mit dem Geist des
Zeitalters in innigster Uebereinstimmung stand. Lord Bacon wollte für das
neue Leben und dessen Bildungstriebe die neue ihm entsprechende Logik finden-
Die Reformen des Zeitalters gründeten sich auf die großen Erfindungen des
Pulvers, der Buchdruckerkunst und des Compasses, und demgemäß will Bacon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/258>, abgerufen am 03.07.2024.