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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Kraft und Stoff.

Fechner, Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig, 1835. --

Wir müssen heute unsern Lesern zumuthen, uns in einen der schwierig¬
sten Theile der Naturforschung zu folgen. Den nächsten Anlaß gibt uns hierzu
die aus den Zeitungen einigermaßen bekannt gewordene Rede Liebigs gegen
den Materialismus. Auch wir gehören bekanntlich zu den Gegnern dieser
Irrlehre, aber durchgehends erscheinen uns die gegen sie vorgebrachten Gründe
nicht stichhaltig. Viele, welche zwar eine Umkehr der Wissenschaften im Sinne
Stahls als sophistischen Trug erkennen, scheuen sich doch, den Materialisten
gewisse nicht grade streng beweisbare, aber höchst wahrscheinliche Sätze ein¬
zuräumen; aus Furcht vor unsittlichen Folgerungen halten sie die wissenschaft¬
lichen Schlüsse an einer Grenze zurück, welche zu überschreiten sie keine Nöthigung
zwar, aber ohne jene Besorgniß auch kein Bedenken finden würden. Solche
Zurückhaltung verschreien dann die Materialisten.als Heuchelei und weltliche
Furcht, benutzen aber inzwischen die Gelegenheit, das ihnen überlassene
Gebiet mit ihren halbwahren und unwahren Hypothesen auszubauen.

Bei solcher Auffassung konnte die Rede unsers großen Chemikers unsern
Beifall nicht gewinnen. Wir meinen, daß die Physik und Mathematik dem
Materialismus schon den wissenschaftlichen Boden genommen hatte, als er ent¬
stand und daß jeder wissenschaftliche. Fortschritt seine Nichtigkeit immer klarer
darlegen wird. Liebig dagegen hat die bereits zu Grabe getragene Lebenskraft
wieder zu erwecken versucht und die Naturkundigen dadurch nicht wenig in Ver¬
wunderung gesetzt. Soll nämlich "Lebenskraft" ein Begriff, nicht ein bloßes
Wort sein, so müßten doch bestimmte Gesetze, nach welchen sie wirkte, zu ent¬
decken sein; niemand aber hat bisher auch nur versucht, eine Theorie der Lebens¬
kraft aufzustellen. Ueberdies sind alle früher der Lebenskraft zugeschriebenen
Erscheinungen, insoweit sie überhaupt eine weitere Erklärung gefunden haben,
auf andre bekannte physikalische Kräfte zurückgeführt worden; Liebig selbst hat
sich unter andern durch Erklärung der thierischen Wärme aus einem unmerk¬
lichen Verbrennungsproceß der Nahrungsmittel im Blute um-die Physiologie
ein großes Verdienst erworben. Ohne alle theoretische wie praktische Begrün¬
dung erfunden, wurde also "Lebenskraft" gleichbedeutend mit "unbekannter
Ursache" und wenn sich Liebig aus die Unmöglichkeit beruft, ein organisches
Wesen chemisch darzustellen, so ist das durch das Obwalten unbekannter Ursachen
in den Organismen hinreichend erklärt; jedenfalls könnten wir die Unmöglich¬
keit erst dann für eine absolute erklären, wenn uns alle Bedingungen bekannt
wären.

Die Auferweckung schon abgethaner Hypothesen ist offenbar nicht geeignet, ma-


Grenzboten. II. 1866. 29
Kraft und Stoff.

Fechner, Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig, 1835. —

Wir müssen heute unsern Lesern zumuthen, uns in einen der schwierig¬
sten Theile der Naturforschung zu folgen. Den nächsten Anlaß gibt uns hierzu
die aus den Zeitungen einigermaßen bekannt gewordene Rede Liebigs gegen
den Materialismus. Auch wir gehören bekanntlich zu den Gegnern dieser
Irrlehre, aber durchgehends erscheinen uns die gegen sie vorgebrachten Gründe
nicht stichhaltig. Viele, welche zwar eine Umkehr der Wissenschaften im Sinne
Stahls als sophistischen Trug erkennen, scheuen sich doch, den Materialisten
gewisse nicht grade streng beweisbare, aber höchst wahrscheinliche Sätze ein¬
zuräumen; aus Furcht vor unsittlichen Folgerungen halten sie die wissenschaft¬
lichen Schlüsse an einer Grenze zurück, welche zu überschreiten sie keine Nöthigung
zwar, aber ohne jene Besorgniß auch kein Bedenken finden würden. Solche
Zurückhaltung verschreien dann die Materialisten.als Heuchelei und weltliche
Furcht, benutzen aber inzwischen die Gelegenheit, das ihnen überlassene
Gebiet mit ihren halbwahren und unwahren Hypothesen auszubauen.

Bei solcher Auffassung konnte die Rede unsers großen Chemikers unsern
Beifall nicht gewinnen. Wir meinen, daß die Physik und Mathematik dem
Materialismus schon den wissenschaftlichen Boden genommen hatte, als er ent¬
stand und daß jeder wissenschaftliche. Fortschritt seine Nichtigkeit immer klarer
darlegen wird. Liebig dagegen hat die bereits zu Grabe getragene Lebenskraft
wieder zu erwecken versucht und die Naturkundigen dadurch nicht wenig in Ver¬
wunderung gesetzt. Soll nämlich „Lebenskraft" ein Begriff, nicht ein bloßes
Wort sein, so müßten doch bestimmte Gesetze, nach welchen sie wirkte, zu ent¬
decken sein; niemand aber hat bisher auch nur versucht, eine Theorie der Lebens¬
kraft aufzustellen. Ueberdies sind alle früher der Lebenskraft zugeschriebenen
Erscheinungen, insoweit sie überhaupt eine weitere Erklärung gefunden haben,
auf andre bekannte physikalische Kräfte zurückgeführt worden; Liebig selbst hat
sich unter andern durch Erklärung der thierischen Wärme aus einem unmerk¬
lichen Verbrennungsproceß der Nahrungsmittel im Blute um-die Physiologie
ein großes Verdienst erworben. Ohne alle theoretische wie praktische Begrün¬
dung erfunden, wurde also „Lebenskraft" gleichbedeutend mit „unbekannter
Ursache" und wenn sich Liebig aus die Unmöglichkeit beruft, ein organisches
Wesen chemisch darzustellen, so ist das durch das Obwalten unbekannter Ursachen
in den Organismen hinreichend erklärt; jedenfalls könnten wir die Unmöglich¬
keit erst dann für eine absolute erklären, wenn uns alle Bedingungen bekannt
wären.

Die Auferweckung schon abgethaner Hypothesen ist offenbar nicht geeignet, ma-


Grenzboten. II. 1866. 29
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[0233] Kraft und Stoff. Fechner, Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig, 1835. — Wir müssen heute unsern Lesern zumuthen, uns in einen der schwierig¬ sten Theile der Naturforschung zu folgen. Den nächsten Anlaß gibt uns hierzu die aus den Zeitungen einigermaßen bekannt gewordene Rede Liebigs gegen den Materialismus. Auch wir gehören bekanntlich zu den Gegnern dieser Irrlehre, aber durchgehends erscheinen uns die gegen sie vorgebrachten Gründe nicht stichhaltig. Viele, welche zwar eine Umkehr der Wissenschaften im Sinne Stahls als sophistischen Trug erkennen, scheuen sich doch, den Materialisten gewisse nicht grade streng beweisbare, aber höchst wahrscheinliche Sätze ein¬ zuräumen; aus Furcht vor unsittlichen Folgerungen halten sie die wissenschaft¬ lichen Schlüsse an einer Grenze zurück, welche zu überschreiten sie keine Nöthigung zwar, aber ohne jene Besorgniß auch kein Bedenken finden würden. Solche Zurückhaltung verschreien dann die Materialisten.als Heuchelei und weltliche Furcht, benutzen aber inzwischen die Gelegenheit, das ihnen überlassene Gebiet mit ihren halbwahren und unwahren Hypothesen auszubauen. Bei solcher Auffassung konnte die Rede unsers großen Chemikers unsern Beifall nicht gewinnen. Wir meinen, daß die Physik und Mathematik dem Materialismus schon den wissenschaftlichen Boden genommen hatte, als er ent¬ stand und daß jeder wissenschaftliche. Fortschritt seine Nichtigkeit immer klarer darlegen wird. Liebig dagegen hat die bereits zu Grabe getragene Lebenskraft wieder zu erwecken versucht und die Naturkundigen dadurch nicht wenig in Ver¬ wunderung gesetzt. Soll nämlich „Lebenskraft" ein Begriff, nicht ein bloßes Wort sein, so müßten doch bestimmte Gesetze, nach welchen sie wirkte, zu ent¬ decken sein; niemand aber hat bisher auch nur versucht, eine Theorie der Lebens¬ kraft aufzustellen. Ueberdies sind alle früher der Lebenskraft zugeschriebenen Erscheinungen, insoweit sie überhaupt eine weitere Erklärung gefunden haben, auf andre bekannte physikalische Kräfte zurückgeführt worden; Liebig selbst hat sich unter andern durch Erklärung der thierischen Wärme aus einem unmerk¬ lichen Verbrennungsproceß der Nahrungsmittel im Blute um-die Physiologie ein großes Verdienst erworben. Ohne alle theoretische wie praktische Begrün¬ dung erfunden, wurde also „Lebenskraft" gleichbedeutend mit „unbekannter Ursache" und wenn sich Liebig aus die Unmöglichkeit beruft, ein organisches Wesen chemisch darzustellen, so ist das durch das Obwalten unbekannter Ursachen in den Organismen hinreichend erklärt; jedenfalls könnten wir die Unmöglich¬ keit erst dann für eine absolute erklären, wenn uns alle Bedingungen bekannt wären. Die Auferweckung schon abgethaner Hypothesen ist offenbar nicht geeignet, ma- Grenzboten. II. 1866. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/233>, abgerufen am 05.07.2024.