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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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die einigen Kräutern beigelegte Eigenschaft, die Geister anzulocken oder zu
vertreiben. Und in einem Zeitalter wie das unsrige, wo die Tischverrückthcit
und Gcisterklopffechterei die Reise um die Welt gemacht hat, wo Psychographie
und Somnambulismus grassiren und Mormonen und Jrvingianer ihr Wesen
treiben, wo Crucifixe Blut schwitzen und Madonnenbilder Thränen vergießen
und wo die "Leibhaftigkeit" des Teufels sich von neuem zum Dogma unsrer
reformirten Kirche erhebt, dürfen wir den ehrlichen alten Puritaner nicht zu
streng beurtheilen, wenn er in denselben Irrwahn verfiel, den die Fortschritte
der Cultur noch heute nicht ganz auszurotten vermocht haben.




Zur Geschichte der neuesten Theologie,

von Professor Karl Schwarz. Leipzig, Brockhaus. --

Der Verfasser hat die neueste Bewegung auf dem Gebiet der Theologie
mit warmem Eifer selbst durchgemacht, er ist aber von den praktischen Tendenzen
derselben nicht so umstrickt gewesen, daß er nicht ein völlig unbefangenes Ur¬
theil bewahrt hätte. Neben der vollständigen Kenntniß seines Gegenstandes
besitzt er eine reiche philosophische Bildung und zugleich das Talent, das mit
großer Feinheit aufgefundene Ncrvengeflecht dieser Bewegung auch dem un--
kundigen Auge bloßzulegen. Obgleich er zwischen den guten und schlechten
Richtungen der Theologie einen Unterschied macht, hat er doch ein gebildetes
Verständniß auch für die guten Seiten seiner Gegner und das ehrliche Be¬
streben, denselben gerecht zu werden. Ueber das letzte Resultat seiner Ueber¬
zeugung sind wu nicht ganz mit ihm einverstanden und hätten deshalb auch
gegen die Art, wie er die neuesten Leistungen der Theologie bespricht und wie
er sich die zukünftige Entwicklung denkt, manches einzuwenden; für alles Vor¬
hergehende aber können wir uns zuversichtlich seiner Leitung anvertrauen. Wir
durchmustern an seiner Hand, wenn, auch nur flüchtig, das umfassende Gebiet
der religiösen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts.

Der alte Rationalismus, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts herrschte,
litt nicht, wie man ihm nachzusagen pflegt, an einem Uebermaß der Vernunft,
sondern an einer mangelhaften Ausbildung derselben. Er lehnte sich gegen
die Uebernatürlichkeit der Dogmatik auf, aber nur um die gemeine Natürlich¬
st, eine lare Moral und einen nüchternen Pragmatismus an die Stelle zu
setzen. Er konnte das Christenthum nicht kritisiren, weil ihm die Bildungs-
"ivinente fehlten, es zu verstehen/

Zwei Umstände waren es, welche eine Wiedergeburt der Religion herbei-
führten: der ästhetische Bildungstrieb unsrer classischen und romantischen Dich-


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die einigen Kräutern beigelegte Eigenschaft, die Geister anzulocken oder zu
vertreiben. Und in einem Zeitalter wie das unsrige, wo die Tischverrückthcit
und Gcisterklopffechterei die Reise um die Welt gemacht hat, wo Psychographie
und Somnambulismus grassiren und Mormonen und Jrvingianer ihr Wesen
treiben, wo Crucifixe Blut schwitzen und Madonnenbilder Thränen vergießen
und wo die „Leibhaftigkeit" des Teufels sich von neuem zum Dogma unsrer
reformirten Kirche erhebt, dürfen wir den ehrlichen alten Puritaner nicht zu
streng beurtheilen, wenn er in denselben Irrwahn verfiel, den die Fortschritte
der Cultur noch heute nicht ganz auszurotten vermocht haben.




Zur Geschichte der neuesten Theologie,

von Professor Karl Schwarz. Leipzig, Brockhaus. —

Der Verfasser hat die neueste Bewegung auf dem Gebiet der Theologie
mit warmem Eifer selbst durchgemacht, er ist aber von den praktischen Tendenzen
derselben nicht so umstrickt gewesen, daß er nicht ein völlig unbefangenes Ur¬
theil bewahrt hätte. Neben der vollständigen Kenntniß seines Gegenstandes
besitzt er eine reiche philosophische Bildung und zugleich das Talent, das mit
großer Feinheit aufgefundene Ncrvengeflecht dieser Bewegung auch dem un--
kundigen Auge bloßzulegen. Obgleich er zwischen den guten und schlechten
Richtungen der Theologie einen Unterschied macht, hat er doch ein gebildetes
Verständniß auch für die guten Seiten seiner Gegner und das ehrliche Be¬
streben, denselben gerecht zu werden. Ueber das letzte Resultat seiner Ueber¬
zeugung sind wu nicht ganz mit ihm einverstanden und hätten deshalb auch
gegen die Art, wie er die neuesten Leistungen der Theologie bespricht und wie
er sich die zukünftige Entwicklung denkt, manches einzuwenden; für alles Vor¬
hergehende aber können wir uns zuversichtlich seiner Leitung anvertrauen. Wir
durchmustern an seiner Hand, wenn, auch nur flüchtig, das umfassende Gebiet
der religiösen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts.

Der alte Rationalismus, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts herrschte,
litt nicht, wie man ihm nachzusagen pflegt, an einem Uebermaß der Vernunft,
sondern an einer mangelhaften Ausbildung derselben. Er lehnte sich gegen
die Uebernatürlichkeit der Dogmatik auf, aber nur um die gemeine Natürlich¬
st, eine lare Moral und einen nüchternen Pragmatismus an die Stelle zu
setzen. Er konnte das Christenthum nicht kritisiren, weil ihm die Bildungs-
»ivinente fehlten, es zu verstehen/

Zwei Umstände waren es, welche eine Wiedergeburt der Religion herbei-
führten: der ästhetische Bildungstrieb unsrer classischen und romantischen Dich-


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[0179] die einigen Kräutern beigelegte Eigenschaft, die Geister anzulocken oder zu vertreiben. Und in einem Zeitalter wie das unsrige, wo die Tischverrückthcit und Gcisterklopffechterei die Reise um die Welt gemacht hat, wo Psychographie und Somnambulismus grassiren und Mormonen und Jrvingianer ihr Wesen treiben, wo Crucifixe Blut schwitzen und Madonnenbilder Thränen vergießen und wo die „Leibhaftigkeit" des Teufels sich von neuem zum Dogma unsrer reformirten Kirche erhebt, dürfen wir den ehrlichen alten Puritaner nicht zu streng beurtheilen, wenn er in denselben Irrwahn verfiel, den die Fortschritte der Cultur noch heute nicht ganz auszurotten vermocht haben. Zur Geschichte der neuesten Theologie, von Professor Karl Schwarz. Leipzig, Brockhaus. — Der Verfasser hat die neueste Bewegung auf dem Gebiet der Theologie mit warmem Eifer selbst durchgemacht, er ist aber von den praktischen Tendenzen derselben nicht so umstrickt gewesen, daß er nicht ein völlig unbefangenes Ur¬ theil bewahrt hätte. Neben der vollständigen Kenntniß seines Gegenstandes besitzt er eine reiche philosophische Bildung und zugleich das Talent, das mit großer Feinheit aufgefundene Ncrvengeflecht dieser Bewegung auch dem un-- kundigen Auge bloßzulegen. Obgleich er zwischen den guten und schlechten Richtungen der Theologie einen Unterschied macht, hat er doch ein gebildetes Verständniß auch für die guten Seiten seiner Gegner und das ehrliche Be¬ streben, denselben gerecht zu werden. Ueber das letzte Resultat seiner Ueber¬ zeugung sind wu nicht ganz mit ihm einverstanden und hätten deshalb auch gegen die Art, wie er die neuesten Leistungen der Theologie bespricht und wie er sich die zukünftige Entwicklung denkt, manches einzuwenden; für alles Vor¬ hergehende aber können wir uns zuversichtlich seiner Leitung anvertrauen. Wir durchmustern an seiner Hand, wenn, auch nur flüchtig, das umfassende Gebiet der religiösen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts. Der alte Rationalismus, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts herrschte, litt nicht, wie man ihm nachzusagen pflegt, an einem Uebermaß der Vernunft, sondern an einer mangelhaften Ausbildung derselben. Er lehnte sich gegen die Uebernatürlichkeit der Dogmatik auf, aber nur um die gemeine Natürlich¬ st, eine lare Moral und einen nüchternen Pragmatismus an die Stelle zu setzen. Er konnte das Christenthum nicht kritisiren, weil ihm die Bildungs- »ivinente fehlten, es zu verstehen/ Zwei Umstände waren es, welche eine Wiedergeburt der Religion herbei- führten: der ästhetische Bildungstrieb unsrer classischen und romantischen Dich- 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/179>, abgerufen am 05.07.2024.