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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Pariser Brief.

Nachdem wir im vorigen Briefe von den für das recitirende Schauspiel
bestimmten Bühnen gesprochen, wenden wir uns zu den sogenannten lyrischen
Theatern, die sich der vorzüglichen Gunst der Regierung erfreuen und als kos¬
mopolitische Institute sich besonders der Aufmerksamkeit des Fremden empfehlen.

Es gibt deren bekanntlich vier: die große Oper, die komische Oper, das
lyrische Theater und die italienische Oper. Die große Oper, die sogenannte
Acadezmie impvriale, ist seit Verons Austritt aus der Direction in fortwährend
zunehmendem Verfall. Die Zeit der Nourrit, Duprez, Levasseur, Falcon, Da-
moreau, Stolz u. s. w. ist vorüber -- Ander hat seit der Stummen, Halevy
seit der Jüdin für diese Bühne kein erfolgreiches Werk mehr schreiben können.
Rossini wird gewöhnlich Doubluren zur Verarbeitung gegeben, da die besten
Sänger und Sängerinnen von Meyerbeer in Anspruch genommen werden.
Meyerbeer aber und das Ballet sind es vorzüglich, welche diese Anstalt vor gänz¬
lichem Ruin retten, was beides ein Beweis ist, daß die Franzosen die Musik nicht
lieben. Der Prophet ist noch immer das einzige Kassenstück der großen Oper
und in dem Augenblicke wo wir schreiben wird mit Verdis sicilianischer Ves¬
per ein neuer Versuch gemacht, der, wenn nach dem nicht immer unbefangenen
Spectakel, den eine erste Vorstellung macht, geurtheilt werden kann, ein glück¬
licher sein soll. Verdi ist der italienische Meyerbeer -- beide machen mehr
Lärm als Spectakel, aber ersterer hat den Vorzug natürlicher Inspiration, er
macht Lärm von sich heraus, wahrend der erlauchte Giacomo Meyerbeer seinen
unmusikalischen Spectakel ängstlich in sich hinein trägt, wie ein Wucherer
Groschen auf Groschen anhäuft, bis eine hübsche Summe zusammenkommt.
Von den Darstellenden ist eben auch nicht viel Gutes zu sagen -- Die Cru-
velli paßt vollkommen zum Repertorium der gegenwärtigen Oper. Von Natur
reich begabt sucht sie ihren Erfolg durch unkünstlerische, unmusikalische Hilfs¬
mittelchen und gefällt zwar durch ihren unnatürlichen Pathos sowol der Menge
als Herrn Meyerbeer, aber großen Kunstgenuß darf man sich nicht von ihr
versprechen. Das Theater des kaiserlichen Haushalts steht sozusagen blos
aus den Beinen des Ballets, auf den dicken der sonst flinken und feurigen
Beretta, auf den plastischen der schönen Cerrito (aus Urlaub) und auf den
beredten der Nocati, die seit der Elster die erste Tänzerin ist, welche mit Geist
und Empfindung tanzt. In der Oper wäre also ein Ballet anzusehen, und
Verdis stcilianische Vesper, wo nicht als musikalisches Ereignis?, so doch als
nsuts uouvkÄUtk pku'iswnne, um die Decorationen und die glänzende Aus¬
stattung der ersten musikalischen Bühne Frankreichs zu bewundern. Wer zu
Meyerbeers Verehrern cniancl meine gehört, der mag die dicke Alboni anhören,


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Pariser Brief.

Nachdem wir im vorigen Briefe von den für das recitirende Schauspiel
bestimmten Bühnen gesprochen, wenden wir uns zu den sogenannten lyrischen
Theatern, die sich der vorzüglichen Gunst der Regierung erfreuen und als kos¬
mopolitische Institute sich besonders der Aufmerksamkeit des Fremden empfehlen.

Es gibt deren bekanntlich vier: die große Oper, die komische Oper, das
lyrische Theater und die italienische Oper. Die große Oper, die sogenannte
Acadezmie impvriale, ist seit Verons Austritt aus der Direction in fortwährend
zunehmendem Verfall. Die Zeit der Nourrit, Duprez, Levasseur, Falcon, Da-
moreau, Stolz u. s. w. ist vorüber — Ander hat seit der Stummen, Halevy
seit der Jüdin für diese Bühne kein erfolgreiches Werk mehr schreiben können.
Rossini wird gewöhnlich Doubluren zur Verarbeitung gegeben, da die besten
Sänger und Sängerinnen von Meyerbeer in Anspruch genommen werden.
Meyerbeer aber und das Ballet sind es vorzüglich, welche diese Anstalt vor gänz¬
lichem Ruin retten, was beides ein Beweis ist, daß die Franzosen die Musik nicht
lieben. Der Prophet ist noch immer das einzige Kassenstück der großen Oper
und in dem Augenblicke wo wir schreiben wird mit Verdis sicilianischer Ves¬
per ein neuer Versuch gemacht, der, wenn nach dem nicht immer unbefangenen
Spectakel, den eine erste Vorstellung macht, geurtheilt werden kann, ein glück¬
licher sein soll. Verdi ist der italienische Meyerbeer — beide machen mehr
Lärm als Spectakel, aber ersterer hat den Vorzug natürlicher Inspiration, er
macht Lärm von sich heraus, wahrend der erlauchte Giacomo Meyerbeer seinen
unmusikalischen Spectakel ängstlich in sich hinein trägt, wie ein Wucherer
Groschen auf Groschen anhäuft, bis eine hübsche Summe zusammenkommt.
Von den Darstellenden ist eben auch nicht viel Gutes zu sagen — Die Cru-
velli paßt vollkommen zum Repertorium der gegenwärtigen Oper. Von Natur
reich begabt sucht sie ihren Erfolg durch unkünstlerische, unmusikalische Hilfs¬
mittelchen und gefällt zwar durch ihren unnatürlichen Pathos sowol der Menge
als Herrn Meyerbeer, aber großen Kunstgenuß darf man sich nicht von ihr
versprechen. Das Theater des kaiserlichen Haushalts steht sozusagen blos
aus den Beinen des Ballets, auf den dicken der sonst flinken und feurigen
Beretta, auf den plastischen der schönen Cerrito (aus Urlaub) und auf den
beredten der Nocati, die seit der Elster die erste Tänzerin ist, welche mit Geist
und Empfindung tanzt. In der Oper wäre also ein Ballet anzusehen, und
Verdis stcilianische Vesper, wo nicht als musikalisches Ereignis?, so doch als
nsuts uouvkÄUtk pku'iswnne, um die Decorationen und die glänzende Aus¬
stattung der ersten musikalischen Bühne Frankreichs zu bewundern. Wer zu
Meyerbeers Verehrern cniancl meine gehört, der mag die dicke Alboni anhören,


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[0083] Pariser Brief. Nachdem wir im vorigen Briefe von den für das recitirende Schauspiel bestimmten Bühnen gesprochen, wenden wir uns zu den sogenannten lyrischen Theatern, die sich der vorzüglichen Gunst der Regierung erfreuen und als kos¬ mopolitische Institute sich besonders der Aufmerksamkeit des Fremden empfehlen. Es gibt deren bekanntlich vier: die große Oper, die komische Oper, das lyrische Theater und die italienische Oper. Die große Oper, die sogenannte Acadezmie impvriale, ist seit Verons Austritt aus der Direction in fortwährend zunehmendem Verfall. Die Zeit der Nourrit, Duprez, Levasseur, Falcon, Da- moreau, Stolz u. s. w. ist vorüber — Ander hat seit der Stummen, Halevy seit der Jüdin für diese Bühne kein erfolgreiches Werk mehr schreiben können. Rossini wird gewöhnlich Doubluren zur Verarbeitung gegeben, da die besten Sänger und Sängerinnen von Meyerbeer in Anspruch genommen werden. Meyerbeer aber und das Ballet sind es vorzüglich, welche diese Anstalt vor gänz¬ lichem Ruin retten, was beides ein Beweis ist, daß die Franzosen die Musik nicht lieben. Der Prophet ist noch immer das einzige Kassenstück der großen Oper und in dem Augenblicke wo wir schreiben wird mit Verdis sicilianischer Ves¬ per ein neuer Versuch gemacht, der, wenn nach dem nicht immer unbefangenen Spectakel, den eine erste Vorstellung macht, geurtheilt werden kann, ein glück¬ licher sein soll. Verdi ist der italienische Meyerbeer — beide machen mehr Lärm als Spectakel, aber ersterer hat den Vorzug natürlicher Inspiration, er macht Lärm von sich heraus, wahrend der erlauchte Giacomo Meyerbeer seinen unmusikalischen Spectakel ängstlich in sich hinein trägt, wie ein Wucherer Groschen auf Groschen anhäuft, bis eine hübsche Summe zusammenkommt. Von den Darstellenden ist eben auch nicht viel Gutes zu sagen — Die Cru- velli paßt vollkommen zum Repertorium der gegenwärtigen Oper. Von Natur reich begabt sucht sie ihren Erfolg durch unkünstlerische, unmusikalische Hilfs¬ mittelchen und gefällt zwar durch ihren unnatürlichen Pathos sowol der Menge als Herrn Meyerbeer, aber großen Kunstgenuß darf man sich nicht von ihr versprechen. Das Theater des kaiserlichen Haushalts steht sozusagen blos aus den Beinen des Ballets, auf den dicken der sonst flinken und feurigen Beretta, auf den plastischen der schönen Cerrito (aus Urlaub) und auf den beredten der Nocati, die seit der Elster die erste Tänzerin ist, welche mit Geist und Empfindung tanzt. In der Oper wäre also ein Ballet anzusehen, und Verdis stcilianische Vesper, wo nicht als musikalisches Ereignis?, so doch als nsuts uouvkÄUtk pku'iswnne, um die Decorationen und die glänzende Aus¬ stattung der ersten musikalischen Bühne Frankreichs zu bewundern. Wer zu Meyerbeers Verehrern cniancl meine gehört, der mag die dicke Alboni anhören, 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/83>, abgerufen am 22.07.2024.