Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eramen durchfällt, weil er im lateinischen Exercitium zu viel Fehler macht.
Die natürliche Alternative eines unbemittelten jungen Mannes ist nun, ent¬
weder das Studium aufzugeben und ein praktisches Geschäft zu treiben, oder
fleißiger zu sein, um nachträglich das Eramen zu bestehen. Gegen dies letztere
sträubt sich aber das Selbstgefühl des jungen Poeten, dem die Beschäftigung
mit den todten Sprachen als etwas Ueberflüssiges erscheint. Er will sich so¬
fort seinem eigentlichen Beruf zuwenden, d. h. schriftstellern. Statt ihn nun
zur Vernunft zu bringen, bestärkt ihn sein wohlwollender Vormund in seinem
Vorhaben. Das ist nicht blos albern, es ist gewissenlos gehandelt. Ein
Schriftsteller kann eine sehr tüchtige Stellung im Leben einnehmen, wenn er
dem Publicum an Bildung überlegen ist; es steht aber schlimm mit ihm, wenn
er nicht einmal die gewöhnlichen Anforderungen erreicht. Ob man nun ein
Paar lateinische Regeln mehr oder weniger weiß, wird zwar den Stand der
Bildung nicht wesentlich ändern, aber es verhält sich hier wie mit dem bekannten
sophistischen Scherz über die Kahlköpfigkeit: der Unterschied eines Haars macht
nicht zum Kahlkopf, und doch muß zuletzt eine Grenze gesteckt werden. In
Dingen, die in das Bereich des menschlichen Willens fallen, steckt man diese
Grenze mit einiger Willkür, und da müssen wir behaupten, daß die Anforde¬
rungen, die man an die Bildung eines Abiturienten stellt, so mäßig sind, daß
derjenige, der nicht einmal sie zu erfüllen im Stande ist, auch nicht den Beruf
haben kann, der Nation als Lehrer entgegenzutreten, was doch der Schriftsteller
sein soll.


Lichtes und Dunkles. Erzählungen von E. Fentsch. (Fr. Hilarius). Stutt-
gart, Gebrüder Schellin,. --

Einzelne Einfälle in diesen humoristischen Skizzen sind ganz vortrefflich;
aber sie sind weder zahlreich noch bedeutend genug, um die Uebelstände, die
mit der aphoristischen Form stets verknüpft sind, zu beseitigen. Wenn man in
einer fortgesetzten Spannung der Neugierde bleibt, so sieht man dem Erzähler
manche Schwächen nach; wo man sich aber fortwährend zu einer neuen Auf¬
merksamkeit zusammenraffen muß, verlangt man etwas Ungewöhnliches und
Bedeutendes. -- Die gegenwärtigen Erzählungen bilden den ersten Band einer
größern Reihe von Schriften desselben Verfassers. --


VZolferts Ruft. Transatlantische Skizzen von Washington Irving. Aus
dem Englischen von W. E. Drugulin. Leipzig, Lorck. --

Ein schönes Buch, voll Kraft, Natur und Leben, welches sich den frühern
Skizzen des berühmten Verfassers würdig anschließt und seines echt menschlichen
Inhalts wegen verdient, auch von dem deutschen Publicum mit Aufmerksamkeit
und Interesse betrachtet zu werden. --


eramen durchfällt, weil er im lateinischen Exercitium zu viel Fehler macht.
Die natürliche Alternative eines unbemittelten jungen Mannes ist nun, ent¬
weder das Studium aufzugeben und ein praktisches Geschäft zu treiben, oder
fleißiger zu sein, um nachträglich das Eramen zu bestehen. Gegen dies letztere
sträubt sich aber das Selbstgefühl des jungen Poeten, dem die Beschäftigung
mit den todten Sprachen als etwas Ueberflüssiges erscheint. Er will sich so¬
fort seinem eigentlichen Beruf zuwenden, d. h. schriftstellern. Statt ihn nun
zur Vernunft zu bringen, bestärkt ihn sein wohlwollender Vormund in seinem
Vorhaben. Das ist nicht blos albern, es ist gewissenlos gehandelt. Ein
Schriftsteller kann eine sehr tüchtige Stellung im Leben einnehmen, wenn er
dem Publicum an Bildung überlegen ist; es steht aber schlimm mit ihm, wenn
er nicht einmal die gewöhnlichen Anforderungen erreicht. Ob man nun ein
Paar lateinische Regeln mehr oder weniger weiß, wird zwar den Stand der
Bildung nicht wesentlich ändern, aber es verhält sich hier wie mit dem bekannten
sophistischen Scherz über die Kahlköpfigkeit: der Unterschied eines Haars macht
nicht zum Kahlkopf, und doch muß zuletzt eine Grenze gesteckt werden. In
Dingen, die in das Bereich des menschlichen Willens fallen, steckt man diese
Grenze mit einiger Willkür, und da müssen wir behaupten, daß die Anforde¬
rungen, die man an die Bildung eines Abiturienten stellt, so mäßig sind, daß
derjenige, der nicht einmal sie zu erfüllen im Stande ist, auch nicht den Beruf
haben kann, der Nation als Lehrer entgegenzutreten, was doch der Schriftsteller
sein soll.


Lichtes und Dunkles. Erzählungen von E. Fentsch. (Fr. Hilarius). Stutt-
gart, Gebrüder Schellin,. —

Einzelne Einfälle in diesen humoristischen Skizzen sind ganz vortrefflich;
aber sie sind weder zahlreich noch bedeutend genug, um die Uebelstände, die
mit der aphoristischen Form stets verknüpft sind, zu beseitigen. Wenn man in
einer fortgesetzten Spannung der Neugierde bleibt, so sieht man dem Erzähler
manche Schwächen nach; wo man sich aber fortwährend zu einer neuen Auf¬
merksamkeit zusammenraffen muß, verlangt man etwas Ungewöhnliches und
Bedeutendes. — Die gegenwärtigen Erzählungen bilden den ersten Band einer
größern Reihe von Schriften desselben Verfassers. —


VZolferts Ruft. Transatlantische Skizzen von Washington Irving. Aus
dem Englischen von W. E. Drugulin. Leipzig, Lorck. —

Ein schönes Buch, voll Kraft, Natur und Leben, welches sich den frühern
Skizzen des berühmten Verfassers würdig anschließt und seines echt menschlichen
Inhalts wegen verdient, auch von dem deutschen Publicum mit Aufmerksamkeit
und Interesse betrachtet zu werden. —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0399" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100319"/>
            <p xml:id="ID_1145" prev="#ID_1144"> eramen durchfällt, weil er im lateinischen Exercitium zu viel Fehler macht.<lb/>
Die natürliche Alternative eines unbemittelten jungen Mannes ist nun, ent¬<lb/>
weder das Studium aufzugeben und ein praktisches Geschäft zu treiben, oder<lb/>
fleißiger zu sein, um nachträglich das Eramen zu bestehen. Gegen dies letztere<lb/>
sträubt sich aber das Selbstgefühl des jungen Poeten, dem die Beschäftigung<lb/>
mit den todten Sprachen als etwas Ueberflüssiges erscheint. Er will sich so¬<lb/>
fort seinem eigentlichen Beruf zuwenden, d. h. schriftstellern. Statt ihn nun<lb/>
zur Vernunft zu bringen, bestärkt ihn sein wohlwollender Vormund in seinem<lb/>
Vorhaben. Das ist nicht blos albern, es ist gewissenlos gehandelt. Ein<lb/>
Schriftsteller kann eine sehr tüchtige Stellung im Leben einnehmen, wenn er<lb/>
dem Publicum an Bildung überlegen ist; es steht aber schlimm mit ihm, wenn<lb/>
er nicht einmal die gewöhnlichen Anforderungen erreicht. Ob man nun ein<lb/>
Paar lateinische Regeln mehr oder weniger weiß, wird zwar den Stand der<lb/>
Bildung nicht wesentlich ändern, aber es verhält sich hier wie mit dem bekannten<lb/>
sophistischen Scherz über die Kahlköpfigkeit: der Unterschied eines Haars macht<lb/>
nicht zum Kahlkopf, und doch muß zuletzt eine Grenze gesteckt werden. In<lb/>
Dingen, die in das Bereich des menschlichen Willens fallen, steckt man diese<lb/>
Grenze mit einiger Willkür, und da müssen wir behaupten, daß die Anforde¬<lb/>
rungen, die man an die Bildung eines Abiturienten stellt, so mäßig sind, daß<lb/>
derjenige, der nicht einmal sie zu erfüllen im Stande ist, auch nicht den Beruf<lb/>
haben kann, der Nation als Lehrer entgegenzutreten, was doch der Schriftsteller<lb/>
sein soll.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Lichtes und Dunkles.  Erzählungen von E. Fentsch. (Fr. Hilarius). Stutt-<lb/>
gart, Gebrüder Schellin,. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1146"> Einzelne Einfälle in diesen humoristischen Skizzen sind ganz vortrefflich;<lb/>
aber sie sind weder zahlreich noch bedeutend genug, um die Uebelstände, die<lb/>
mit der aphoristischen Form stets verknüpft sind, zu beseitigen. Wenn man in<lb/>
einer fortgesetzten Spannung der Neugierde bleibt, so sieht man dem Erzähler<lb/>
manche Schwächen nach; wo man sich aber fortwährend zu einer neuen Auf¬<lb/>
merksamkeit zusammenraffen muß, verlangt man etwas Ungewöhnliches und<lb/>
Bedeutendes. &#x2014; Die gegenwärtigen Erzählungen bilden den ersten Band einer<lb/>
größern Reihe von Schriften desselben Verfassers. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> VZolferts Ruft.  Transatlantische Skizzen von Washington Irving. Aus<lb/>
dem Englischen von W. E. Drugulin.  Leipzig, Lorck. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1147"> Ein schönes Buch, voll Kraft, Natur und Leben, welches sich den frühern<lb/>
Skizzen des berühmten Verfassers würdig anschließt und seines echt menschlichen<lb/>
Inhalts wegen verdient, auch von dem deutschen Publicum mit Aufmerksamkeit<lb/>
und Interesse betrachtet zu werden. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0399] eramen durchfällt, weil er im lateinischen Exercitium zu viel Fehler macht. Die natürliche Alternative eines unbemittelten jungen Mannes ist nun, ent¬ weder das Studium aufzugeben und ein praktisches Geschäft zu treiben, oder fleißiger zu sein, um nachträglich das Eramen zu bestehen. Gegen dies letztere sträubt sich aber das Selbstgefühl des jungen Poeten, dem die Beschäftigung mit den todten Sprachen als etwas Ueberflüssiges erscheint. Er will sich so¬ fort seinem eigentlichen Beruf zuwenden, d. h. schriftstellern. Statt ihn nun zur Vernunft zu bringen, bestärkt ihn sein wohlwollender Vormund in seinem Vorhaben. Das ist nicht blos albern, es ist gewissenlos gehandelt. Ein Schriftsteller kann eine sehr tüchtige Stellung im Leben einnehmen, wenn er dem Publicum an Bildung überlegen ist; es steht aber schlimm mit ihm, wenn er nicht einmal die gewöhnlichen Anforderungen erreicht. Ob man nun ein Paar lateinische Regeln mehr oder weniger weiß, wird zwar den Stand der Bildung nicht wesentlich ändern, aber es verhält sich hier wie mit dem bekannten sophistischen Scherz über die Kahlköpfigkeit: der Unterschied eines Haars macht nicht zum Kahlkopf, und doch muß zuletzt eine Grenze gesteckt werden. In Dingen, die in das Bereich des menschlichen Willens fallen, steckt man diese Grenze mit einiger Willkür, und da müssen wir behaupten, daß die Anforde¬ rungen, die man an die Bildung eines Abiturienten stellt, so mäßig sind, daß derjenige, der nicht einmal sie zu erfüllen im Stande ist, auch nicht den Beruf haben kann, der Nation als Lehrer entgegenzutreten, was doch der Schriftsteller sein soll. Lichtes und Dunkles. Erzählungen von E. Fentsch. (Fr. Hilarius). Stutt- gart, Gebrüder Schellin,. — Einzelne Einfälle in diesen humoristischen Skizzen sind ganz vortrefflich; aber sie sind weder zahlreich noch bedeutend genug, um die Uebelstände, die mit der aphoristischen Form stets verknüpft sind, zu beseitigen. Wenn man in einer fortgesetzten Spannung der Neugierde bleibt, so sieht man dem Erzähler manche Schwächen nach; wo man sich aber fortwährend zu einer neuen Auf¬ merksamkeit zusammenraffen muß, verlangt man etwas Ungewöhnliches und Bedeutendes. — Die gegenwärtigen Erzählungen bilden den ersten Band einer größern Reihe von Schriften desselben Verfassers. — VZolferts Ruft. Transatlantische Skizzen von Washington Irving. Aus dem Englischen von W. E. Drugulin. Leipzig, Lorck. — Ein schönes Buch, voll Kraft, Natur und Leben, welches sich den frühern Skizzen des berühmten Verfassers würdig anschließt und seines echt menschlichen Inhalts wegen verdient, auch von dem deutschen Publicum mit Aufmerksamkeit und Interesse betrachtet zu werden. —

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/399
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/399>, abgerufen am 22.12.2024.