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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Schillers und Goethes lyrische Gedichte.

Die neuerdings hervorgerufene Schillerbewegung hat gezeigt, wie populär
der Name des großen Dichters im Volke ist. Wir nehmen das als ein er¬
freuliches Zeugniß für die Pietät der deutschen Nation, die nicht gemeint ist,
sich die wirklichen Schätze ihrer Geschichte verkümmern zu lassen; allein in
diesem Fall sind wir zu geneigt, uns aus hergebrachten Meinungen und
Ansichten ein Bild von dem Dichter zusammenzusetzen, welches der Wirklichkeit
nicht sehr entspricht. Zwar sind seine Dramen so beschaffendaß sie, vo"
einigen fremdartigen Zuthaten abgesehen, im Großen und Ganzen einen un¬
mittelbaren Eindruck auf jedes fühlende Gemüth machen müssen und von dieser
Seite ist er wirklich populär; allein von seinen philosophischen Abhandlungen,
die ein nicht geringeres Interesse in Anspruch nehmen, sind sehr wenig bekannt,
und an seine Gedichte erinnert man sich nur aus der Schulzeit. Man weiß
nicht, ob man es ein Glück oder Unglück nennen soll, daß man den Dichter
so früh kennen lernt; man prägt sich die Glocke, die Worte des Glaubens,, die
Bürgschaft u. s. w. ein und dies ist dann auch für die spätere Zeit das einzige
Material der Beurtheilung; sür die kühner und freier angelegten poetischen
Schöpfungen hat man in jener Zeit noch kein Verständniß und später ignorirt
' man sie aus Gewohnheit. Es ist daher nicht unangebracht, hier auf eine
Seite seines Dichtens aufmerksam zu machen, die man leicht übersieht.

Als das Bündniß mit Goethe geschloffen wurde und nun der Kampf der
Dichtung gegen alle bisherige Ueberlieferung begann, waren die griechische
Kunst und der speculative Idealismus die Elemente, aus welchen die Dichtung
ihr neues Reich begründete; sie mußten es sein, denn die Poesie kann sich ihre
Stoffe nicht selbst schaffen und damals war das deutsche Leben ohne geschicht¬
liche Entwicklung, ohne gesellschaftliche Form, ohne religiösen Inhalt, es waren
privatrechtliche Beziehungen in steife Convenienz und in pietistische Weichlich¬
keit verkümmert. Unter allen Wissenschaften hielt die Philologie allein gegen
die allgemeine Krankhaftigkeit des Lebens Stand, an ihr mußte also auch
die Dichtung einen Halt suchen. Nirgend tritt das so deutlich hervor, als in
Schillers lyrischen Gedichten. .


Grenzboten. II. 18so. 61
Schillers und Goethes lyrische Gedichte.

Die neuerdings hervorgerufene Schillerbewegung hat gezeigt, wie populär
der Name des großen Dichters im Volke ist. Wir nehmen das als ein er¬
freuliches Zeugniß für die Pietät der deutschen Nation, die nicht gemeint ist,
sich die wirklichen Schätze ihrer Geschichte verkümmern zu lassen; allein in
diesem Fall sind wir zu geneigt, uns aus hergebrachten Meinungen und
Ansichten ein Bild von dem Dichter zusammenzusetzen, welches der Wirklichkeit
nicht sehr entspricht. Zwar sind seine Dramen so beschaffendaß sie, vo»
einigen fremdartigen Zuthaten abgesehen, im Großen und Ganzen einen un¬
mittelbaren Eindruck auf jedes fühlende Gemüth machen müssen und von dieser
Seite ist er wirklich populär; allein von seinen philosophischen Abhandlungen,
die ein nicht geringeres Interesse in Anspruch nehmen, sind sehr wenig bekannt,
und an seine Gedichte erinnert man sich nur aus der Schulzeit. Man weiß
nicht, ob man es ein Glück oder Unglück nennen soll, daß man den Dichter
so früh kennen lernt; man prägt sich die Glocke, die Worte des Glaubens,, die
Bürgschaft u. s. w. ein und dies ist dann auch für die spätere Zeit das einzige
Material der Beurtheilung; sür die kühner und freier angelegten poetischen
Schöpfungen hat man in jener Zeit noch kein Verständniß und später ignorirt
' man sie aus Gewohnheit. Es ist daher nicht unangebracht, hier auf eine
Seite seines Dichtens aufmerksam zu machen, die man leicht übersieht.

Als das Bündniß mit Goethe geschloffen wurde und nun der Kampf der
Dichtung gegen alle bisherige Ueberlieferung begann, waren die griechische
Kunst und der speculative Idealismus die Elemente, aus welchen die Dichtung
ihr neues Reich begründete; sie mußten es sein, denn die Poesie kann sich ihre
Stoffe nicht selbst schaffen und damals war das deutsche Leben ohne geschicht¬
liche Entwicklung, ohne gesellschaftliche Form, ohne religiösen Inhalt, es waren
privatrechtliche Beziehungen in steife Convenienz und in pietistische Weichlich¬
keit verkümmert. Unter allen Wissenschaften hielt die Philologie allein gegen
die allgemeine Krankhaftigkeit des Lebens Stand, an ihr mußte also auch
die Dichtung einen Halt suchen. Nirgend tritt das so deutlich hervor, als in
Schillers lyrischen Gedichten. .


Grenzboten. II. 18so. 61
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[0489] Schillers und Goethes lyrische Gedichte. Die neuerdings hervorgerufene Schillerbewegung hat gezeigt, wie populär der Name des großen Dichters im Volke ist. Wir nehmen das als ein er¬ freuliches Zeugniß für die Pietät der deutschen Nation, die nicht gemeint ist, sich die wirklichen Schätze ihrer Geschichte verkümmern zu lassen; allein in diesem Fall sind wir zu geneigt, uns aus hergebrachten Meinungen und Ansichten ein Bild von dem Dichter zusammenzusetzen, welches der Wirklichkeit nicht sehr entspricht. Zwar sind seine Dramen so beschaffendaß sie, vo» einigen fremdartigen Zuthaten abgesehen, im Großen und Ganzen einen un¬ mittelbaren Eindruck auf jedes fühlende Gemüth machen müssen und von dieser Seite ist er wirklich populär; allein von seinen philosophischen Abhandlungen, die ein nicht geringeres Interesse in Anspruch nehmen, sind sehr wenig bekannt, und an seine Gedichte erinnert man sich nur aus der Schulzeit. Man weiß nicht, ob man es ein Glück oder Unglück nennen soll, daß man den Dichter so früh kennen lernt; man prägt sich die Glocke, die Worte des Glaubens,, die Bürgschaft u. s. w. ein und dies ist dann auch für die spätere Zeit das einzige Material der Beurtheilung; sür die kühner und freier angelegten poetischen Schöpfungen hat man in jener Zeit noch kein Verständniß und später ignorirt ' man sie aus Gewohnheit. Es ist daher nicht unangebracht, hier auf eine Seite seines Dichtens aufmerksam zu machen, die man leicht übersieht. Als das Bündniß mit Goethe geschloffen wurde und nun der Kampf der Dichtung gegen alle bisherige Ueberlieferung begann, waren die griechische Kunst und der speculative Idealismus die Elemente, aus welchen die Dichtung ihr neues Reich begründete; sie mußten es sein, denn die Poesie kann sich ihre Stoffe nicht selbst schaffen und damals war das deutsche Leben ohne geschicht¬ liche Entwicklung, ohne gesellschaftliche Form, ohne religiösen Inhalt, es waren privatrechtliche Beziehungen in steife Convenienz und in pietistische Weichlich¬ keit verkümmert. Unter allen Wissenschaften hielt die Philologie allein gegen die allgemeine Krankhaftigkeit des Lebens Stand, an ihr mußte also auch die Dichtung einen Halt suchen. Nirgend tritt das so deutlich hervor, als in Schillers lyrischen Gedichten. . Grenzboten. II. 18so. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/489>, abgerufen am 29.06.2024.