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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Wie wichtig für Shakespeare die Kenntniß der gleichzeitige" Dramen ist, hat
man seit Tieck vollkommen begriffen, wenn man anch von dem übertriebenen
Werth, den Tieck auf diese eigentlich doch sehr schwachen Producte legte, zurück¬
gekommen ist. Es ist daher sehr zu loben, daß durch eine correcte und wohl¬
feile Ausgabe auch dieser Zweig der Literatur dem deutschen Publicum näher
gerückt wird. Die beiden vorliegenden sehr gut gedruckten Hefte kosten zu¬
sammen einen Thaler. --




Korrespondenzen.
Aus Konstantinopel

Ueber die Zielpunkte des gegen¬
wärtigen Krieges. Was mich seither am meisten in Rücksicht auf den gegen¬
wärtigen Krieg befremdete, das ist das geringe Maß von Begeisterung, welches
sich in demselben für die große Sache kundthnt. Und dennoch wurde kaum jemals
ein Kampf um größere und umfassendere Interessen, materielle wie geistige, be¬
gonnen; keiner war nothwendiger, unerläßlicher; von keinem ander" kann gesagt
werden, daß seine Entscheidung weiter reichen und für die Gestaltung der euro¬
päischen Zukunft, der Zukunft der Welt, bedingender sein werde, wie der Ausgang
dieses Streites'. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß dem blutigen Ringen wider
Napoleon I. kaum eine gleich dringende Nothwendigkeit innewohnte, wie diesem
Entgegentreten der europäischen Mächte wider Rußland ans dessen Marsch nach
Konstantinopel. Jener Kampf galt nur der Uebermacht eines Mannes, denn in
welche Hände auch die französische Kaiserkrone nach seinem Tode gekommen sein
möchte, falls er sie bis dahin behauptet hätte, schwerlich würde Frankreich im Staude
gewesen sein, die Machtstellung zu wahren, die es durch die Siege des großen ge'
sürsteten Feldherrn gewonnen hatte. Dagegen ist bei dem Gegenüber Europas
wider Nußland die Wahrscheinlichkeit entstanden, daß die gefürchtete Macht stetig
zunehmen werde. Bei keinem Kriege kommt daher so sehr, wie bei diesem, die nächste
Stunde in Betracht, keiner ist so durchaus unaufschiebbar und darum innerlich
nothwendig, wie er; für keinen endlich gilt, wie für diesen, das mahnende Wort
jetzt oder nie! Worum es sich in diesem Streite handelte, ist nicht die Obmacht
eines Mannes. Der Zar starb und dieser Todesfall hat nichts geändert. Kaum
kann gesagt werden, daß es ein Volk sei, dem unsre Gegenvorkehrungen gelten;
dieselben haben ein größeres und umfassenderes Ziel; es ist eine ganze Race, es
jhe das von dieser getragene Staats- und Wcltprincip, gegen welches wir anzu¬
kämpfen haben. Rußland im Streite wider Europa heißt nichts Andres als die
Austragung der großen Frage über deu weitern Verlauf der Geschichte unsres Ge¬
schlechts. Wir haben uns zu lauge Zeit in den Gedanken eingewiegt, daß West¬
europa die Entscheidungsgewalt über die konnneudeu Geschicke unsres Planeten be¬
wahre und haben darüber, mannigfacher Mahnungen ungeachtet, vergessen, wie
nach und nach im Schoß des Ostens dieses Welttheils" ein mächtiges Gegengewicht
gegen diese Gewalt entstand. Noch wiegt es der Macht nicht gleich, welche die vier


Wie wichtig für Shakespeare die Kenntniß der gleichzeitige» Dramen ist, hat
man seit Tieck vollkommen begriffen, wenn man anch von dem übertriebenen
Werth, den Tieck auf diese eigentlich doch sehr schwachen Producte legte, zurück¬
gekommen ist. Es ist daher sehr zu loben, daß durch eine correcte und wohl¬
feile Ausgabe auch dieser Zweig der Literatur dem deutschen Publicum näher
gerückt wird. Die beiden vorliegenden sehr gut gedruckten Hefte kosten zu¬
sammen einen Thaler. —




Korrespondenzen.
Aus Konstantinopel

Ueber die Zielpunkte des gegen¬
wärtigen Krieges. Was mich seither am meisten in Rücksicht auf den gegen¬
wärtigen Krieg befremdete, das ist das geringe Maß von Begeisterung, welches
sich in demselben für die große Sache kundthnt. Und dennoch wurde kaum jemals
ein Kampf um größere und umfassendere Interessen, materielle wie geistige, be¬
gonnen; keiner war nothwendiger, unerläßlicher; von keinem ander» kann gesagt
werden, daß seine Entscheidung weiter reichen und für die Gestaltung der euro¬
päischen Zukunft, der Zukunft der Welt, bedingender sein werde, wie der Ausgang
dieses Streites'. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß dem blutigen Ringen wider
Napoleon I. kaum eine gleich dringende Nothwendigkeit innewohnte, wie diesem
Entgegentreten der europäischen Mächte wider Rußland ans dessen Marsch nach
Konstantinopel. Jener Kampf galt nur der Uebermacht eines Mannes, denn in
welche Hände auch die französische Kaiserkrone nach seinem Tode gekommen sein
möchte, falls er sie bis dahin behauptet hätte, schwerlich würde Frankreich im Staude
gewesen sein, die Machtstellung zu wahren, die es durch die Siege des großen ge'
sürsteten Feldherrn gewonnen hatte. Dagegen ist bei dem Gegenüber Europas
wider Nußland die Wahrscheinlichkeit entstanden, daß die gefürchtete Macht stetig
zunehmen werde. Bei keinem Kriege kommt daher so sehr, wie bei diesem, die nächste
Stunde in Betracht, keiner ist so durchaus unaufschiebbar und darum innerlich
nothwendig, wie er; für keinen endlich gilt, wie für diesen, das mahnende Wort
jetzt oder nie! Worum es sich in diesem Streite handelte, ist nicht die Obmacht
eines Mannes. Der Zar starb und dieser Todesfall hat nichts geändert. Kaum
kann gesagt werden, daß es ein Volk sei, dem unsre Gegenvorkehrungen gelten;
dieselben haben ein größeres und umfassenderes Ziel; es ist eine ganze Race, es
jhe das von dieser getragene Staats- und Wcltprincip, gegen welches wir anzu¬
kämpfen haben. Rußland im Streite wider Europa heißt nichts Andres als die
Austragung der großen Frage über deu weitern Verlauf der Geschichte unsres Ge¬
schlechts. Wir haben uns zu lauge Zeit in den Gedanken eingewiegt, daß West¬
europa die Entscheidungsgewalt über die konnneudeu Geschicke unsres Planeten be¬
wahre und haben darüber, mannigfacher Mahnungen ungeachtet, vergessen, wie
nach und nach im Schoß des Ostens dieses Welttheils" ein mächtiges Gegengewicht
gegen diese Gewalt entstand. Noch wiegt es der Macht nicht gleich, welche die vier


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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/360>, abgerufen am 05.12.2024.