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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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aber auch, wie hoch der Dichter über seiner Zeit stand, die ihn nur trcivestiren
und ins Fratzenhafte übertreiben konnte. --


Ungelehrte Erklärung des Goethischen Faust. Von I. A. Härtung.
Leipzig, Engelmann. --

Der Titel setzt, uns einigermaßen in Verwunderung. Die Erklärung
eines uns unverständlichen Werkes erwarten wir doch wol nicht vom Umge¬
kehrten, sondern vom Gelehrten, und um die tausendfachen Anspielungen, von
denen namentlich der zweite Theil des Faust wimmelt, richtig zu erläutern, be¬
darf es sogar einer ungewöhnlichen Gelehrsamkeit. Da der Verfasser .sich auch
in der Vorrede über jene Bezeichnung nicht weiter ausspricht, so können wir
nur annehmen, er wollte damit einen Gegensatz gegen die Philosophen aus¬
drücken, die nicht aus dem Drama heraus, sondern in das Drama hinein
interpretiren.

Ehe wir an die Kritik des Ganzen gehen, erlauben wir uns einige Aus-
stellungen in Bezug aufs Einzelne. Bekanntlich ist der Faust schon so häufig
interpretirt worden, daß diese Commentare allein eine ganze Bibliothek aus¬
füllen könnten. Es wäre nun wol von jedem neuen Ausleger wünschenswert!),
wenn er die Stellung, die sein Werk innerhalb dieser Literatur einnehmen soll,
vorher bezeichnete, um die Berechtigung desselben nachzuweisen; denn was der
Verfasser in der Vorrede sagt: "Uebrigens erachte ich es für eine Pietäts¬
pflicht, zum Verständniß des größten und räthselhaftesten Werkes des Dichters,
welchem ich soviel zu danken habe, das Meinige beizutragen," so reicht dieser
Grund doch wol nicht völlig aus. Der einzige von seinen Vorgängern, auf
den er sich theils anerkennend, theils polemisch bezieht, ist Düntzer. Daß
zwischen den beiden Männern einige Geistesverwandtschaft besteht, wird man
wol aus folgender Schilderung der Nachbarin, S. 88, erkennen: "Wir müssen
uns unter ihr eine hübsche Frau, etwa in den vierziger Jahren, denken. Der
Herr Schwertlein hat sie einst ohne Zweifel blos wegen ihrer Schönheit ge-
heirathet: denn er selbst liebte Weiber, Wein und Würfel, und so paßten sie
ganz gut zusammen, insofern keines von beiden für häusliche und eheliche
Tugenden irgendeinen Sinn hatte. Weil ein jedes von ihnen gern seine
Wege ging, so ließ es auch das andere ungehindert walten: Herr Schwertlein
konnte eS immer nicht lange daheim aushalten, denn er liebte das Wandern;
und Frau Schwertlein wußte sich für sein Absein zu entschädigen, daß sie
keine lange Weile verspürte. Zuletzt ist der Mann gar durchgegangen, Weib
und Kinder in Stich lassend, um in Italien bei Cvndotticris zu dienen, wo
man ein freies Leben führen konnte wie unter Wallenstein. Frau Schwertlein
aber ist das gerade Gegentheil von Gretchens Mutter: ebendarum mußte ihr
Umgang Neiz für das Mädchen haben, weil die Triebe, welche die Natur in


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aber auch, wie hoch der Dichter über seiner Zeit stand, die ihn nur trcivestiren
und ins Fratzenhafte übertreiben konnte. —


Ungelehrte Erklärung des Goethischen Faust. Von I. A. Härtung.
Leipzig, Engelmann. —

Der Titel setzt, uns einigermaßen in Verwunderung. Die Erklärung
eines uns unverständlichen Werkes erwarten wir doch wol nicht vom Umge¬
kehrten, sondern vom Gelehrten, und um die tausendfachen Anspielungen, von
denen namentlich der zweite Theil des Faust wimmelt, richtig zu erläutern, be¬
darf es sogar einer ungewöhnlichen Gelehrsamkeit. Da der Verfasser .sich auch
in der Vorrede über jene Bezeichnung nicht weiter ausspricht, so können wir
nur annehmen, er wollte damit einen Gegensatz gegen die Philosophen aus¬
drücken, die nicht aus dem Drama heraus, sondern in das Drama hinein
interpretiren.

Ehe wir an die Kritik des Ganzen gehen, erlauben wir uns einige Aus-
stellungen in Bezug aufs Einzelne. Bekanntlich ist der Faust schon so häufig
interpretirt worden, daß diese Commentare allein eine ganze Bibliothek aus¬
füllen könnten. Es wäre nun wol von jedem neuen Ausleger wünschenswert!),
wenn er die Stellung, die sein Werk innerhalb dieser Literatur einnehmen soll,
vorher bezeichnete, um die Berechtigung desselben nachzuweisen; denn was der
Verfasser in der Vorrede sagt: „Uebrigens erachte ich es für eine Pietäts¬
pflicht, zum Verständniß des größten und räthselhaftesten Werkes des Dichters,
welchem ich soviel zu danken habe, das Meinige beizutragen," so reicht dieser
Grund doch wol nicht völlig aus. Der einzige von seinen Vorgängern, auf
den er sich theils anerkennend, theils polemisch bezieht, ist Düntzer. Daß
zwischen den beiden Männern einige Geistesverwandtschaft besteht, wird man
wol aus folgender Schilderung der Nachbarin, S. 88, erkennen: „Wir müssen
uns unter ihr eine hübsche Frau, etwa in den vierziger Jahren, denken. Der
Herr Schwertlein hat sie einst ohne Zweifel blos wegen ihrer Schönheit ge-
heirathet: denn er selbst liebte Weiber, Wein und Würfel, und so paßten sie
ganz gut zusammen, insofern keines von beiden für häusliche und eheliche
Tugenden irgendeinen Sinn hatte. Weil ein jedes von ihnen gern seine
Wege ging, so ließ es auch das andere ungehindert walten: Herr Schwertlein
konnte eS immer nicht lange daheim aushalten, denn er liebte das Wandern;
und Frau Schwertlein wußte sich für sein Absein zu entschädigen, daß sie
keine lange Weile verspürte. Zuletzt ist der Mann gar durchgegangen, Weib
und Kinder in Stich lassend, um in Italien bei Cvndotticris zu dienen, wo
man ein freies Leben führen konnte wie unter Wallenstein. Frau Schwertlein
aber ist das gerade Gegentheil von Gretchens Mutter: ebendarum mußte ihr
Umgang Neiz für das Mädchen haben, weil die Triebe, welche die Natur in


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[0307] aber auch, wie hoch der Dichter über seiner Zeit stand, die ihn nur trcivestiren und ins Fratzenhafte übertreiben konnte. — Ungelehrte Erklärung des Goethischen Faust. Von I. A. Härtung. Leipzig, Engelmann. — Der Titel setzt, uns einigermaßen in Verwunderung. Die Erklärung eines uns unverständlichen Werkes erwarten wir doch wol nicht vom Umge¬ kehrten, sondern vom Gelehrten, und um die tausendfachen Anspielungen, von denen namentlich der zweite Theil des Faust wimmelt, richtig zu erläutern, be¬ darf es sogar einer ungewöhnlichen Gelehrsamkeit. Da der Verfasser .sich auch in der Vorrede über jene Bezeichnung nicht weiter ausspricht, so können wir nur annehmen, er wollte damit einen Gegensatz gegen die Philosophen aus¬ drücken, die nicht aus dem Drama heraus, sondern in das Drama hinein interpretiren. Ehe wir an die Kritik des Ganzen gehen, erlauben wir uns einige Aus- stellungen in Bezug aufs Einzelne. Bekanntlich ist der Faust schon so häufig interpretirt worden, daß diese Commentare allein eine ganze Bibliothek aus¬ füllen könnten. Es wäre nun wol von jedem neuen Ausleger wünschenswert!), wenn er die Stellung, die sein Werk innerhalb dieser Literatur einnehmen soll, vorher bezeichnete, um die Berechtigung desselben nachzuweisen; denn was der Verfasser in der Vorrede sagt: „Uebrigens erachte ich es für eine Pietäts¬ pflicht, zum Verständniß des größten und räthselhaftesten Werkes des Dichters, welchem ich soviel zu danken habe, das Meinige beizutragen," so reicht dieser Grund doch wol nicht völlig aus. Der einzige von seinen Vorgängern, auf den er sich theils anerkennend, theils polemisch bezieht, ist Düntzer. Daß zwischen den beiden Männern einige Geistesverwandtschaft besteht, wird man wol aus folgender Schilderung der Nachbarin, S. 88, erkennen: „Wir müssen uns unter ihr eine hübsche Frau, etwa in den vierziger Jahren, denken. Der Herr Schwertlein hat sie einst ohne Zweifel blos wegen ihrer Schönheit ge- heirathet: denn er selbst liebte Weiber, Wein und Würfel, und so paßten sie ganz gut zusammen, insofern keines von beiden für häusliche und eheliche Tugenden irgendeinen Sinn hatte. Weil ein jedes von ihnen gern seine Wege ging, so ließ es auch das andere ungehindert walten: Herr Schwertlein konnte eS immer nicht lange daheim aushalten, denn er liebte das Wandern; und Frau Schwertlein wußte sich für sein Absein zu entschädigen, daß sie keine lange Weile verspürte. Zuletzt ist der Mann gar durchgegangen, Weib und Kinder in Stich lassend, um in Italien bei Cvndotticris zu dienen, wo man ein freies Leben führen konnte wie unter Wallenstein. Frau Schwertlein aber ist das gerade Gegentheil von Gretchens Mutter: ebendarum mußte ihr Umgang Neiz für das Mädchen haben, weil die Triebe, welche die Natur in 38'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/307>, abgerufen am 29.06.2024.