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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Seiten besitzt Thierry die positiven Eigenschaften; er hat Wärme und Begeiste¬
rung, aber sein Verstand leistet seinen Empfindungen überall Widerstand, und
er bleibt frei auch bei der lebhaftesten Erregung seines Gefühls.

Die Geschichte deö merovingischen Königthums ist mit Recht in Geschich¬
ten aufgelöst, weil es hier weniger darauf ankam, eine übersichtlich chronologisch
geordnete und erschöpfende Erzählung zu geben, als vielmehr die charakteristi¬
schen Züge jenes wilden und phantastischen Zeitalters, in dem eine Fredegunde
die Hauptrolle spielte, zu abgerundeten Bildern zu gruppiren. Die Meister¬
schaft der Darstellung jener blutigen Greuel ist ebenso bewundernswürdig, als
die Aufmerksamkeit, mit welcher der Geschichtschreiber dabei das stille Schaffen
und Leben des wirklichen Volkes beobachtet.

Wir wünschen dem Buche auf das lebhafteste, daß eS sich bei uns ein¬
bürgere und einen Theil unsrer eignen Literatur ausmache. Der Uebersetzer
hat sich eine anerkennenswerthe Mühe gegeben, aus dieses Ziel hinzuarbeiten;
ganz ist es ihm nicht gelungen; der frische Hauch der Schilderung ist einiger¬
maßen verwischt und in dem Stil vermissen wir die bezaubernde Freiheit, die
das Original auszeichnet. Indeß bei dem Reichthum deö> Inhalts sieht man
leicht über einige Unebenheiten der Form hinweg, und die Uebersetzung ist schon
an sich als ein Verdienst aufzufassen. --


Geschichte des Protestantismus in Frankreich bis zum Tode Karls >X.
Von Di-. Wilhelm Gottlieb Soltau. Zwei Bände. Leipzig,
F. A. Brockhaus. 1853. --

Soviel uns bekannt ist, tritt der Verfasser mit diesem Werk zum ersten
Male in den Kreis der eigentlichen Geschichtschreibung. Es ist ein höchst ehren¬
volles und anerkennenöwerthes Debüt. Man hat die Geschichte deS 16. Jahr¬
hunderts in Frankreich in der Regel novellistisch behandelt auch in der eigent¬
lichen Geschichtschreibung, und in der That ist sie an bunten Abenteuern,
Leidenschaften und Verwicklungen so überreich, daß man sich nur schwer über¬
windet, in dieser Fülle der Farben auch noch auf die Umrisse seine Aufmerk¬
samkeit zu richten. Herr Soltau hat seine Aufgabe sehr ernst aufgefaßt. Zwar
ist in seiner ausführlichen Geschichte dem bunten Treiben des Hoff und des
Adels ebenfalls sein Recht widerfahren, aber die Hauptsache ist die Entwicklung
des protestantischen Geistes, der in seinem innern Zusammenhang nicht blos
als eine Entwicklung theologischer Lehrbegriffe, sondern als ein Umschwung der
Nationalität überhaupt dargestellt wird. Die Reformation hat sich zwar im
Laufe der Zeit wenigstens vorübergehend auf das theologische Gebiet einge¬
schränkt, in ihrem eigentlichen Wesen aber hatte sie eine höhere Bedeutung;
sie hing mit allen größer" Bestrebungen der Nationalität, des Staatslebens
und der Wissenschaft zusammen, und nur wenn man sie in diesem Zusammcn-


Greuzdoleu. II. iLüö. 33

Seiten besitzt Thierry die positiven Eigenschaften; er hat Wärme und Begeiste¬
rung, aber sein Verstand leistet seinen Empfindungen überall Widerstand, und
er bleibt frei auch bei der lebhaftesten Erregung seines Gefühls.

Die Geschichte deö merovingischen Königthums ist mit Recht in Geschich¬
ten aufgelöst, weil es hier weniger darauf ankam, eine übersichtlich chronologisch
geordnete und erschöpfende Erzählung zu geben, als vielmehr die charakteristi¬
schen Züge jenes wilden und phantastischen Zeitalters, in dem eine Fredegunde
die Hauptrolle spielte, zu abgerundeten Bildern zu gruppiren. Die Meister¬
schaft der Darstellung jener blutigen Greuel ist ebenso bewundernswürdig, als
die Aufmerksamkeit, mit welcher der Geschichtschreiber dabei das stille Schaffen
und Leben des wirklichen Volkes beobachtet.

Wir wünschen dem Buche auf das lebhafteste, daß eS sich bei uns ein¬
bürgere und einen Theil unsrer eignen Literatur ausmache. Der Uebersetzer
hat sich eine anerkennenswerthe Mühe gegeben, aus dieses Ziel hinzuarbeiten;
ganz ist es ihm nicht gelungen; der frische Hauch der Schilderung ist einiger¬
maßen verwischt und in dem Stil vermissen wir die bezaubernde Freiheit, die
das Original auszeichnet. Indeß bei dem Reichthum deö> Inhalts sieht man
leicht über einige Unebenheiten der Form hinweg, und die Uebersetzung ist schon
an sich als ein Verdienst aufzufassen. —


Geschichte des Protestantismus in Frankreich bis zum Tode Karls >X.
Von Di-. Wilhelm Gottlieb Soltau. Zwei Bände. Leipzig,
F. A. Brockhaus. 1853. —

Soviel uns bekannt ist, tritt der Verfasser mit diesem Werk zum ersten
Male in den Kreis der eigentlichen Geschichtschreibung. Es ist ein höchst ehren¬
volles und anerkennenöwerthes Debüt. Man hat die Geschichte deS 16. Jahr¬
hunderts in Frankreich in der Regel novellistisch behandelt auch in der eigent¬
lichen Geschichtschreibung, und in der That ist sie an bunten Abenteuern,
Leidenschaften und Verwicklungen so überreich, daß man sich nur schwer über¬
windet, in dieser Fülle der Farben auch noch auf die Umrisse seine Aufmerk¬
samkeit zu richten. Herr Soltau hat seine Aufgabe sehr ernst aufgefaßt. Zwar
ist in seiner ausführlichen Geschichte dem bunten Treiben des Hoff und des
Adels ebenfalls sein Recht widerfahren, aber die Hauptsache ist die Entwicklung
des protestantischen Geistes, der in seinem innern Zusammenhang nicht blos
als eine Entwicklung theologischer Lehrbegriffe, sondern als ein Umschwung der
Nationalität überhaupt dargestellt wird. Die Reformation hat sich zwar im
Laufe der Zeit wenigstens vorübergehend auf das theologische Gebiet einge¬
schränkt, in ihrem eigentlichen Wesen aber hatte sie eine höhere Bedeutung;
sie hing mit allen größer» Bestrebungen der Nationalität, des Staatslebens
und der Wissenschaft zusammen, und nur wenn man sie in diesem Zusammcn-


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[0265] Seiten besitzt Thierry die positiven Eigenschaften; er hat Wärme und Begeiste¬ rung, aber sein Verstand leistet seinen Empfindungen überall Widerstand, und er bleibt frei auch bei der lebhaftesten Erregung seines Gefühls. Die Geschichte deö merovingischen Königthums ist mit Recht in Geschich¬ ten aufgelöst, weil es hier weniger darauf ankam, eine übersichtlich chronologisch geordnete und erschöpfende Erzählung zu geben, als vielmehr die charakteristi¬ schen Züge jenes wilden und phantastischen Zeitalters, in dem eine Fredegunde die Hauptrolle spielte, zu abgerundeten Bildern zu gruppiren. Die Meister¬ schaft der Darstellung jener blutigen Greuel ist ebenso bewundernswürdig, als die Aufmerksamkeit, mit welcher der Geschichtschreiber dabei das stille Schaffen und Leben des wirklichen Volkes beobachtet. Wir wünschen dem Buche auf das lebhafteste, daß eS sich bei uns ein¬ bürgere und einen Theil unsrer eignen Literatur ausmache. Der Uebersetzer hat sich eine anerkennenswerthe Mühe gegeben, aus dieses Ziel hinzuarbeiten; ganz ist es ihm nicht gelungen; der frische Hauch der Schilderung ist einiger¬ maßen verwischt und in dem Stil vermissen wir die bezaubernde Freiheit, die das Original auszeichnet. Indeß bei dem Reichthum deö> Inhalts sieht man leicht über einige Unebenheiten der Form hinweg, und die Uebersetzung ist schon an sich als ein Verdienst aufzufassen. — Geschichte des Protestantismus in Frankreich bis zum Tode Karls >X. Von Di-. Wilhelm Gottlieb Soltau. Zwei Bände. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1853. — Soviel uns bekannt ist, tritt der Verfasser mit diesem Werk zum ersten Male in den Kreis der eigentlichen Geschichtschreibung. Es ist ein höchst ehren¬ volles und anerkennenöwerthes Debüt. Man hat die Geschichte deS 16. Jahr¬ hunderts in Frankreich in der Regel novellistisch behandelt auch in der eigent¬ lichen Geschichtschreibung, und in der That ist sie an bunten Abenteuern, Leidenschaften und Verwicklungen so überreich, daß man sich nur schwer über¬ windet, in dieser Fülle der Farben auch noch auf die Umrisse seine Aufmerk¬ samkeit zu richten. Herr Soltau hat seine Aufgabe sehr ernst aufgefaßt. Zwar ist in seiner ausführlichen Geschichte dem bunten Treiben des Hoff und des Adels ebenfalls sein Recht widerfahren, aber die Hauptsache ist die Entwicklung des protestantischen Geistes, der in seinem innern Zusammenhang nicht blos als eine Entwicklung theologischer Lehrbegriffe, sondern als ein Umschwung der Nationalität überhaupt dargestellt wird. Die Reformation hat sich zwar im Laufe der Zeit wenigstens vorübergehend auf das theologische Gebiet einge¬ schränkt, in ihrem eigentlichen Wesen aber hatte sie eine höhere Bedeutung; sie hing mit allen größer» Bestrebungen der Nationalität, des Staatslebens und der Wissenschaft zusammen, und nur wenn man sie in diesem Zusammcn- Greuzdoleu. II. iLüö. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/265>, abgerufen am 29.06.2024.