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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Schlestvig-Holsteinische Briefe.
V oro ort.

Motto: Eins in der Liebe zum Ganzen,
Auch im Hassen Eins,
Das heilt vielen Gram der Sterblichen.

Aeschylus,

Spät kommt ihr, doch ihr kommt, werden Sie sagen, wenn Sie das
folgende Packet öffnen. Sie wünschten eher etwas von den Ergebnissen'meiner
Reise zu vernehmen und wie gern hätte ich Ihrem Wunsche entsprochen. Allein
meine auf harmlose Bilder von Land und Leuten angelegten Federzeichnungen
verwandelten sich mir unter den Händen in eine Anklageschrift und als ich
sie überblickte, fand sich, daß ich meinen Botschaften von der Grenze kein ein¬
ziges rein künstlerisches Gemälde, das heißt kein einziges beizulegen hatte, in
das nicht, den behaglichen Genuß der Schilderung verleitend, Scham und
Entrüstung erweckend, der finstere Schatten dämonischer Gewaltherrschaft her¬
einragte. Derartige Mittheilungen aber durch ein königlich dänisches Postamt
befördern zu lassen, schien für die Sache, die im Folgenden vertreten wird,
mehr als gefährlich.

Ja, verehrter Freund, die nachstehenden Berichte sind in ihrer Gesammt¬
heit eine Anklageschrift. Sie sind ein Wehe und ein Pfui -- und das wahr¬
lich nicht blos über die Dänen. Sie sind -- ich zögere nicht, es auszu¬
sprechen -- ein noch lauteres, grelleres, ausdrücklicheres Wehe und Pfui ins
Angesicht des Volkes jenseits der Elbe, das solche Knechtung seines eignen
Fleisches und Blutes, solchen Frevel an Recht und Sprache, solche systemati¬
sche Umkehr aller sittlichen Begriffe durch seine Nachgiebigkeit angebracht und
mit dem bleiernen Phlegma, das es sich unter dem Namen Gemüthlichkeit
nachrühmen läßt, bis heute geduldet hat. Seit der Trauerzeit von Anno sechs
bis dreizehn ist der deutschen Nation nicht Aehnliches geboten worden, wie hier
und ist die Art, wie zwei der edelsten und tüchtigsten unsrer Stämme ge¬
zwungen sind, sich von dem winzigsten aller Völker Europas mit Füßen treten
zu lassen, schon aus der Ferne gesehen, schmerzlich genug, von nahe be¬
trachtet ist sie gradezu herzzerreißend und himmelschreiend.


Grenzboten. IV. 18so. 1
Schlestvig-Holsteinische Briefe.
V oro ort.

Motto: Eins in der Liebe zum Ganzen,
Auch im Hassen Eins,
Das heilt vielen Gram der Sterblichen.

Aeschylus,

Spät kommt ihr, doch ihr kommt, werden Sie sagen, wenn Sie das
folgende Packet öffnen. Sie wünschten eher etwas von den Ergebnissen'meiner
Reise zu vernehmen und wie gern hätte ich Ihrem Wunsche entsprochen. Allein
meine auf harmlose Bilder von Land und Leuten angelegten Federzeichnungen
verwandelten sich mir unter den Händen in eine Anklageschrift und als ich
sie überblickte, fand sich, daß ich meinen Botschaften von der Grenze kein ein¬
ziges rein künstlerisches Gemälde, das heißt kein einziges beizulegen hatte, in
das nicht, den behaglichen Genuß der Schilderung verleitend, Scham und
Entrüstung erweckend, der finstere Schatten dämonischer Gewaltherrschaft her¬
einragte. Derartige Mittheilungen aber durch ein königlich dänisches Postamt
befördern zu lassen, schien für die Sache, die im Folgenden vertreten wird,
mehr als gefährlich.

Ja, verehrter Freund, die nachstehenden Berichte sind in ihrer Gesammt¬
heit eine Anklageschrift. Sie sind ein Wehe und ein Pfui — und das wahr¬
lich nicht blos über die Dänen. Sie sind — ich zögere nicht, es auszu¬
sprechen — ein noch lauteres, grelleres, ausdrücklicheres Wehe und Pfui ins
Angesicht des Volkes jenseits der Elbe, das solche Knechtung seines eignen
Fleisches und Blutes, solchen Frevel an Recht und Sprache, solche systemati¬
sche Umkehr aller sittlichen Begriffe durch seine Nachgiebigkeit angebracht und
mit dem bleiernen Phlegma, das es sich unter dem Namen Gemüthlichkeit
nachrühmen läßt, bis heute geduldet hat. Seit der Trauerzeit von Anno sechs
bis dreizehn ist der deutschen Nation nicht Aehnliches geboten worden, wie hier
und ist die Art, wie zwei der edelsten und tüchtigsten unsrer Stämme ge¬
zwungen sind, sich von dem winzigsten aller Völker Europas mit Füßen treten
zu lassen, schon aus der Ferne gesehen, schmerzlich genug, von nahe be¬
trachtet ist sie gradezu herzzerreißend und himmelschreiend.


Grenzboten. IV. 18so. 1
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[0009] Schlestvig-Holsteinische Briefe. V oro ort. Motto: Eins in der Liebe zum Ganzen, Auch im Hassen Eins, Das heilt vielen Gram der Sterblichen. Aeschylus, Spät kommt ihr, doch ihr kommt, werden Sie sagen, wenn Sie das folgende Packet öffnen. Sie wünschten eher etwas von den Ergebnissen'meiner Reise zu vernehmen und wie gern hätte ich Ihrem Wunsche entsprochen. Allein meine auf harmlose Bilder von Land und Leuten angelegten Federzeichnungen verwandelten sich mir unter den Händen in eine Anklageschrift und als ich sie überblickte, fand sich, daß ich meinen Botschaften von der Grenze kein ein¬ ziges rein künstlerisches Gemälde, das heißt kein einziges beizulegen hatte, in das nicht, den behaglichen Genuß der Schilderung verleitend, Scham und Entrüstung erweckend, der finstere Schatten dämonischer Gewaltherrschaft her¬ einragte. Derartige Mittheilungen aber durch ein königlich dänisches Postamt befördern zu lassen, schien für die Sache, die im Folgenden vertreten wird, mehr als gefährlich. Ja, verehrter Freund, die nachstehenden Berichte sind in ihrer Gesammt¬ heit eine Anklageschrift. Sie sind ein Wehe und ein Pfui — und das wahr¬ lich nicht blos über die Dänen. Sie sind — ich zögere nicht, es auszu¬ sprechen — ein noch lauteres, grelleres, ausdrücklicheres Wehe und Pfui ins Angesicht des Volkes jenseits der Elbe, das solche Knechtung seines eignen Fleisches und Blutes, solchen Frevel an Recht und Sprache, solche systemati¬ sche Umkehr aller sittlichen Begriffe durch seine Nachgiebigkeit angebracht und mit dem bleiernen Phlegma, das es sich unter dem Namen Gemüthlichkeit nachrühmen läßt, bis heute geduldet hat. Seit der Trauerzeit von Anno sechs bis dreizehn ist der deutschen Nation nicht Aehnliches geboten worden, wie hier und ist die Art, wie zwei der edelsten und tüchtigsten unsrer Stämme ge¬ zwungen sind, sich von dem winzigsten aller Völker Europas mit Füßen treten zu lassen, schon aus der Ferne gesehen, schmerzlich genug, von nahe be¬ trachtet ist sie gradezu herzzerreißend und himmelschreiend. Grenzboten. IV. 18so. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/9>, abgerufen am 24.08.2024.