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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Verehrung vor dessen reiner Seele in rührenden Tönen der Klage ausspricht,
so ist das gewiß das schönste Denkmal, das einem Sterblichen gesetzt werden
kann, und so finden sich in der Sammlung noch viele andere Lieder von un¬
zweifelhaftem individuellem Werth. Aber der Herausgeber hat sich die Sache
dadurch verdorben, daß er sie mit vollständiger Absicht, wie ein Compendium
der Literaturgeschichte, zusammenstellt. Diesen Zweck erfüllen sie nun keineswegs;
denn ein dichterisches Werk und ein dichterisches Talent kann nur durch Prosa
und Analyse richtig gewürdigt werden. Nur eine so durch und durch prosaische
Natur, wie Boileau, konnte diese Aufgabe, eine Literaturgeschichte in Versen zu
schreiben, fast so gut lösen, als wen" er es in Prosa gethan. Wo der Poet in
seiner Natur bleibt und entweder die gegenständliche Welt oder seine eigentliche
Stimmung mit innigem Gefühl dem Publicum mittheilt, wird er gewiß zahlreiche
Freunde finden, wenn nicht im großen Ganzen der gebildeten Welt, doch wenig¬
stens in dem kleinen Kreise, dem er angehört nud der ihm befreundet ist. Aber
wenn er seine schöne unabhängige Stellung aufgibt und in das Geschäft des
Kritikers oder Historikers pfusche, wird er sich keine" Dank erwerben; statt die
Prosa zur Poesie zu erheben, wird er die Poesie zur Prosa herabziehen. --




Das süddeutsche Theater.
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(Baiern, Oestreich, Würtemberg.)

Blastrtheit gegen Schmuck und Freude des Lebens, Geringschätzung des
Gegebenen um Unerreichbares war noch vor wenigen Jahren ebenso modern,
als geistreich. In saloppen Versen nach Ausdruck suchend, nannte sich diese
Stimmung poetischer Weltschmerz und die praktische Welt klatschte dieser Dichtcr-
verstimmnng ihren Beifall, bis sie sich selber wahrhaft ernster Anliegen und großer
Aufgaben bewußt ward. Da hieß plötzlich der Weltschmerz und seine Poesie eine
lächerliche Lüge.--Seitdem ist anch die praktische und unpoetische Welt durch
tiefe Enttäuschungen und rasches Ermatten zu tiefer Blasirtheit in allen Richtungen
des Lebens gelangt. Nur das rohe Mein und Dein scheint nicht in die Er¬
schlaffung gerissen. Trotzdem allgemeine Klage über grassen Materialismus;
Gleichgiltigkeit gegen das, was uns an geistiger Schönheit und ästhetischen Gaben
geblieben, geht Hand in Hand mit spröder Ungenügsamkeit an dem, was. sich
unter solcher Ungunst der Stimmungen um entwickelt; eine pessimistische und
negirende Verstimmung in allen höhern Richtungen des Daseins ist das charak¬
teristische Leidenssymptom unserer unmittelbaren Gegenwart.


Verehrung vor dessen reiner Seele in rührenden Tönen der Klage ausspricht,
so ist das gewiß das schönste Denkmal, das einem Sterblichen gesetzt werden
kann, und so finden sich in der Sammlung noch viele andere Lieder von un¬
zweifelhaftem individuellem Werth. Aber der Herausgeber hat sich die Sache
dadurch verdorben, daß er sie mit vollständiger Absicht, wie ein Compendium
der Literaturgeschichte, zusammenstellt. Diesen Zweck erfüllen sie nun keineswegs;
denn ein dichterisches Werk und ein dichterisches Talent kann nur durch Prosa
und Analyse richtig gewürdigt werden. Nur eine so durch und durch prosaische
Natur, wie Boileau, konnte diese Aufgabe, eine Literaturgeschichte in Versen zu
schreiben, fast so gut lösen, als wen» er es in Prosa gethan. Wo der Poet in
seiner Natur bleibt und entweder die gegenständliche Welt oder seine eigentliche
Stimmung mit innigem Gefühl dem Publicum mittheilt, wird er gewiß zahlreiche
Freunde finden, wenn nicht im großen Ganzen der gebildeten Welt, doch wenig¬
stens in dem kleinen Kreise, dem er angehört nud der ihm befreundet ist. Aber
wenn er seine schöne unabhängige Stellung aufgibt und in das Geschäft des
Kritikers oder Historikers pfusche, wird er sich keine» Dank erwerben; statt die
Prosa zur Poesie zu erheben, wird er die Poesie zur Prosa herabziehen. —




Das süddeutsche Theater.
M '-K?k5''»s.in'w^ K^,! - ' :;»let
(Baiern, Oestreich, Würtemberg.)

Blastrtheit gegen Schmuck und Freude des Lebens, Geringschätzung des
Gegebenen um Unerreichbares war noch vor wenigen Jahren ebenso modern,
als geistreich. In saloppen Versen nach Ausdruck suchend, nannte sich diese
Stimmung poetischer Weltschmerz und die praktische Welt klatschte dieser Dichtcr-
verstimmnng ihren Beifall, bis sie sich selber wahrhaft ernster Anliegen und großer
Aufgaben bewußt ward. Da hieß plötzlich der Weltschmerz und seine Poesie eine
lächerliche Lüge.--Seitdem ist anch die praktische und unpoetische Welt durch
tiefe Enttäuschungen und rasches Ermatten zu tiefer Blasirtheit in allen Richtungen
des Lebens gelangt. Nur das rohe Mein und Dein scheint nicht in die Er¬
schlaffung gerissen. Trotzdem allgemeine Klage über grassen Materialismus;
Gleichgiltigkeit gegen das, was uns an geistiger Schönheit und ästhetischen Gaben
geblieben, geht Hand in Hand mit spröder Ungenügsamkeit an dem, was. sich
unter solcher Ungunst der Stimmungen um entwickelt; eine pessimistische und
negirende Verstimmung in allen höhern Richtungen des Daseins ist das charak¬
teristische Leidenssymptom unserer unmittelbaren Gegenwart.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/262>, abgerufen am 22.07.2024.