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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Lohengrin, Qper von Richard Wagner.
r HM

Bekanntlich ist es ein Hauptprincip Wagners, daß die dramatische Musik
in dem Sinne dramatisch sein solle, daß sie die unaufhaltsam fortschreitende
Entwickelung der Handlung in jedem Moment repräsentire, und mit derselben
in fortdauernder Bewegung bleibe; er verlangt daher eine Charakteristik des
Moments, so scharf und prägnant als möglich; er hebt deshalb nicht allein die
übliche Form der einzelnen Musikstücke in den Opern aus, welche auf dem
entgegengesetzten Princip des Verweilens in einer durch die Handlung hervor¬
gerufenen Stimmung beruhet, sondern er will im einzelnsten eine andere Form
für den musikalischen Ausdruck der Empfindung als das, was er Opermelodie
nennt, ohne es seinem Wesen nach näher zu bestimmen. Einer unserer Tages¬
kritiker meinte, Lohengrin löse allerdings das Wagnersche Problem: er sei
melodisch ohne Melodie. Das kühne Wort, wenn man es auf die Lite¬
ratur anwenden darf, ist wohl geeignet uns über die Leistungen mancher Schrift¬
steller'aufzuklären, welche sich bestreben das Problem zu lösen, kritisch zu sein
ohne Kritik, verständig und gebildet ohne Verstand und Bildung: sür die
Würdigung der Oper reicht es nicht aus.

In der That wenn es denkbar wäre, daß jemand eine Oper schriebe in
strenger Ausführung jenes Princips, so würde man durch das bandwurm¬
artige Abspinnen der verschiedenartigen, musikalisch nur aneinander gereihten
Motive -- denn die Gesetze der musikalischen Entwickelung sind nicht schlecht¬
hin identisch mit denen der poetischen -- gradezu bis zur Verzweiflung ge¬
peinigt werden. Indessen die in der Natur der Kunst begründeten Gesetze lassen sich
bei der Ausübung vielfach übertreten, gradezu ausheben kann sie niemand, und
sie werden sich immer wieder wirksam erweisen. So ist es auch Wagner er¬
gangen; an mehren Stellen des Lohengrin ist er wie instinctmäßig gezwungen
worden Halt zu machen, ohne daß es das absolut dramatische Interesse so


Grenzboten, I. I8si. 46
Lohengrin, Qper von Richard Wagner.
r HM

Bekanntlich ist es ein Hauptprincip Wagners, daß die dramatische Musik
in dem Sinne dramatisch sein solle, daß sie die unaufhaltsam fortschreitende
Entwickelung der Handlung in jedem Moment repräsentire, und mit derselben
in fortdauernder Bewegung bleibe; er verlangt daher eine Charakteristik des
Moments, so scharf und prägnant als möglich; er hebt deshalb nicht allein die
übliche Form der einzelnen Musikstücke in den Opern aus, welche auf dem
entgegengesetzten Princip des Verweilens in einer durch die Handlung hervor¬
gerufenen Stimmung beruhet, sondern er will im einzelnsten eine andere Form
für den musikalischen Ausdruck der Empfindung als das, was er Opermelodie
nennt, ohne es seinem Wesen nach näher zu bestimmen. Einer unserer Tages¬
kritiker meinte, Lohengrin löse allerdings das Wagnersche Problem: er sei
melodisch ohne Melodie. Das kühne Wort, wenn man es auf die Lite¬
ratur anwenden darf, ist wohl geeignet uns über die Leistungen mancher Schrift¬
steller'aufzuklären, welche sich bestreben das Problem zu lösen, kritisch zu sein
ohne Kritik, verständig und gebildet ohne Verstand und Bildung: sür die
Würdigung der Oper reicht es nicht aus.

In der That wenn es denkbar wäre, daß jemand eine Oper schriebe in
strenger Ausführung jenes Princips, so würde man durch das bandwurm¬
artige Abspinnen der verschiedenartigen, musikalisch nur aneinander gereihten
Motive — denn die Gesetze der musikalischen Entwickelung sind nicht schlecht¬
hin identisch mit denen der poetischen — gradezu bis zur Verzweiflung ge¬
peinigt werden. Indessen die in der Natur der Kunst begründeten Gesetze lassen sich
bei der Ausübung vielfach übertreten, gradezu ausheben kann sie niemand, und
sie werden sich immer wieder wirksam erweisen. So ist es auch Wagner er¬
gangen; an mehren Stellen des Lohengrin ist er wie instinctmäßig gezwungen
worden Halt zu machen, ohne daß es das absolut dramatische Interesse so


Grenzboten, I. I8si. 46
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[0129] Lohengrin, Qper von Richard Wagner. r HM Bekanntlich ist es ein Hauptprincip Wagners, daß die dramatische Musik in dem Sinne dramatisch sein solle, daß sie die unaufhaltsam fortschreitende Entwickelung der Handlung in jedem Moment repräsentire, und mit derselben in fortdauernder Bewegung bleibe; er verlangt daher eine Charakteristik des Moments, so scharf und prägnant als möglich; er hebt deshalb nicht allein die übliche Form der einzelnen Musikstücke in den Opern aus, welche auf dem entgegengesetzten Princip des Verweilens in einer durch die Handlung hervor¬ gerufenen Stimmung beruhet, sondern er will im einzelnsten eine andere Form für den musikalischen Ausdruck der Empfindung als das, was er Opermelodie nennt, ohne es seinem Wesen nach näher zu bestimmen. Einer unserer Tages¬ kritiker meinte, Lohengrin löse allerdings das Wagnersche Problem: er sei melodisch ohne Melodie. Das kühne Wort, wenn man es auf die Lite¬ ratur anwenden darf, ist wohl geeignet uns über die Leistungen mancher Schrift¬ steller'aufzuklären, welche sich bestreben das Problem zu lösen, kritisch zu sein ohne Kritik, verständig und gebildet ohne Verstand und Bildung: sür die Würdigung der Oper reicht es nicht aus. In der That wenn es denkbar wäre, daß jemand eine Oper schriebe in strenger Ausführung jenes Princips, so würde man durch das bandwurm¬ artige Abspinnen der verschiedenartigen, musikalisch nur aneinander gereihten Motive — denn die Gesetze der musikalischen Entwickelung sind nicht schlecht¬ hin identisch mit denen der poetischen — gradezu bis zur Verzweiflung ge¬ peinigt werden. Indessen die in der Natur der Kunst begründeten Gesetze lassen sich bei der Ausübung vielfach übertreten, gradezu ausheben kann sie niemand, und sie werden sich immer wieder wirksam erweisen. So ist es auch Wagner er¬ gangen; an mehren Stellen des Lohengrin ist er wie instinctmäßig gezwungen worden Halt zu machen, ohne daß es das absolut dramatische Interesse so Grenzboten, I. I8si. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/129>, abgerufen am 22.07.2024.