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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Deutscher Weihnachts- und Neujahrsaberglaube.

Immergrün in dürrer kalter Zeit gleich ihrem Symbole, dem Tannenbäume
in der verblichenen Natur des Winters, wurzelt im Leben des deutschen Volkes
die deutsche Weihnacht. Ewig heiter und hell wie ein Stück aus die Erde ge¬
fallener Himmel "leuchtet sie am Ende jedes Jahres in die dunkeln Gassen und
die verdüsterten Seelen der Alltagswelt. Eine der anmmhigsten Geburten des
germanischen 'Gemüths, eines der lautesten Zeugnisse für dessen Liebenswürdig¬
keit im Vergleich mit andern Nationen, zaubert sie wie kein anderes unsrer
Feste, Stimmungen an die Stelle nüchternen Denkens und Trachtens setzend,
mitten in die Prosa unsrer Tage eine Oase poetischer Regungen.

Was wir meinen, ist nicht blos das Lauschen der Kinderwelt an ver¬
schlossenen Thüren, durch deren Schlüsselloch Strahlen der Bescherung fallen,
die in der "guten Stube" flimmert. Es ist nicht blos das reizende Chaos von
Sehnen und Ahnen, von sinnreichen Räthseln, Geheimnissen und Ueber-
raschungen, über welchen der schöpferische Geist der Frauen bis zu dem tut lux
des Christabends schwebt. Auch nicht blos die Wehmuth, welche im Hause
des Armen den Christbaum vermissen mag, oder der liebreiche Sinn, der ihm
einen anzündet. Was wir meinen, ist endlich auch nicht blos die fromme
Erregtheit, welche Christen am Geburtstage des Sohnes Gottes, des Erlösers
und Seligmachers empfinden mögen. Die holde Magie, das überirdische Licht,
worin die deutsche Weihnacht -- und nur die deutsche -- wie eines jener alten
Bilder aus Goldgrund schwimmt, stammt nicht allein von jenem Sterne, der
die drei Weisen nach der Krippe von Bettchen leitete.

Was wir im Auge haben, ist vielmehr der Hintergrund von all dem Ge¬
sagten- Wir denken an die Weihnachtszeit im weiteren Sinne, an die "heiligen
zwölf Nächte", an die Advente, die ihnen vorausgehen, an die bald unheimlichen,
bald possenhasten Gestalten, die in ihnen durch das Land ziehen, an den Zauber,
der in ihnen geübt wird, an die Sagen und Sitten, die sich an sie knüpfen;
wir denken an den Aberglauben, der die deutsche Weihnacht umgibt. Der


Grenzboten. IV. ->8Li. Ki
Deutscher Weihnachts- und Neujahrsaberglaube.

Immergrün in dürrer kalter Zeit gleich ihrem Symbole, dem Tannenbäume
in der verblichenen Natur des Winters, wurzelt im Leben des deutschen Volkes
die deutsche Weihnacht. Ewig heiter und hell wie ein Stück aus die Erde ge¬
fallener Himmel »leuchtet sie am Ende jedes Jahres in die dunkeln Gassen und
die verdüsterten Seelen der Alltagswelt. Eine der anmmhigsten Geburten des
germanischen 'Gemüths, eines der lautesten Zeugnisse für dessen Liebenswürdig¬
keit im Vergleich mit andern Nationen, zaubert sie wie kein anderes unsrer
Feste, Stimmungen an die Stelle nüchternen Denkens und Trachtens setzend,
mitten in die Prosa unsrer Tage eine Oase poetischer Regungen.

Was wir meinen, ist nicht blos das Lauschen der Kinderwelt an ver¬
schlossenen Thüren, durch deren Schlüsselloch Strahlen der Bescherung fallen,
die in der „guten Stube" flimmert. Es ist nicht blos das reizende Chaos von
Sehnen und Ahnen, von sinnreichen Räthseln, Geheimnissen und Ueber-
raschungen, über welchen der schöpferische Geist der Frauen bis zu dem tut lux
des Christabends schwebt. Auch nicht blos die Wehmuth, welche im Hause
des Armen den Christbaum vermissen mag, oder der liebreiche Sinn, der ihm
einen anzündet. Was wir meinen, ist endlich auch nicht blos die fromme
Erregtheit, welche Christen am Geburtstage des Sohnes Gottes, des Erlösers
und Seligmachers empfinden mögen. Die holde Magie, das überirdische Licht,
worin die deutsche Weihnacht — und nur die deutsche — wie eines jener alten
Bilder aus Goldgrund schwimmt, stammt nicht allein von jenem Sterne, der
die drei Weisen nach der Krippe von Bettchen leitete.

Was wir im Auge haben, ist vielmehr der Hintergrund von all dem Ge¬
sagten- Wir denken an die Weihnachtszeit im weiteren Sinne, an die „heiligen
zwölf Nächte", an die Advente, die ihnen vorausgehen, an die bald unheimlichen,
bald possenhasten Gestalten, die in ihnen durch das Land ziehen, an den Zauber,
der in ihnen geübt wird, an die Sagen und Sitten, die sich an sie knüpfen;
wir denken an den Aberglauben, der die deutsche Weihnacht umgibt. Der


Grenzboten. IV. ->8Li. Ki
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[0489] Deutscher Weihnachts- und Neujahrsaberglaube. Immergrün in dürrer kalter Zeit gleich ihrem Symbole, dem Tannenbäume in der verblichenen Natur des Winters, wurzelt im Leben des deutschen Volkes die deutsche Weihnacht. Ewig heiter und hell wie ein Stück aus die Erde ge¬ fallener Himmel »leuchtet sie am Ende jedes Jahres in die dunkeln Gassen und die verdüsterten Seelen der Alltagswelt. Eine der anmmhigsten Geburten des germanischen 'Gemüths, eines der lautesten Zeugnisse für dessen Liebenswürdig¬ keit im Vergleich mit andern Nationen, zaubert sie wie kein anderes unsrer Feste, Stimmungen an die Stelle nüchternen Denkens und Trachtens setzend, mitten in die Prosa unsrer Tage eine Oase poetischer Regungen. Was wir meinen, ist nicht blos das Lauschen der Kinderwelt an ver¬ schlossenen Thüren, durch deren Schlüsselloch Strahlen der Bescherung fallen, die in der „guten Stube" flimmert. Es ist nicht blos das reizende Chaos von Sehnen und Ahnen, von sinnreichen Räthseln, Geheimnissen und Ueber- raschungen, über welchen der schöpferische Geist der Frauen bis zu dem tut lux des Christabends schwebt. Auch nicht blos die Wehmuth, welche im Hause des Armen den Christbaum vermissen mag, oder der liebreiche Sinn, der ihm einen anzündet. Was wir meinen, ist endlich auch nicht blos die fromme Erregtheit, welche Christen am Geburtstage des Sohnes Gottes, des Erlösers und Seligmachers empfinden mögen. Die holde Magie, das überirdische Licht, worin die deutsche Weihnacht — und nur die deutsche — wie eines jener alten Bilder aus Goldgrund schwimmt, stammt nicht allein von jenem Sterne, der die drei Weisen nach der Krippe von Bettchen leitete. Was wir im Auge haben, ist vielmehr der Hintergrund von all dem Ge¬ sagten- Wir denken an die Weihnachtszeit im weiteren Sinne, an die „heiligen zwölf Nächte", an die Advente, die ihnen vorausgehen, an die bald unheimlichen, bald possenhasten Gestalten, die in ihnen durch das Land ziehen, an den Zauber, der in ihnen geübt wird, an die Sagen und Sitten, die sich an sie knüpfen; wir denken an den Aberglauben, der die deutsche Weihnacht umgibt. Der Grenzboten. IV. ->8Li. Ki

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/489>, abgerufen am 03.07.2024.