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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Indessen sind das alles nur kleine Ausstellungen, die den poetischen Werth
deS Ganzen nicht im geringsten verkürzen. Jeder Freund echter Poesie wird
dem Verfasser für die schöne Gabe dankbar sein.


.j.-.'Ii-
Das Wesen und die Formen der Poesie. Ein Beitrag zur Philosophie des
Schönen und der Kunst. Mit literarhistorischen Erläuterungen. Von
Moriz Carriere. Leipzig, Brockhaus. --

Wer in der Wissenschaft an reinliche Arbeit gewöhnt ist, wird in den
Werken von Carriere nur mit großer Ueberwindung weiter vorschreiten können.
Die Unfähigkeit, einen bestimmten Gedanken in der Form, die ihm zukommt,
festzuhalten und nach allen Seiten zu verarbeiten, ist so groß, daß wir zuweilen
an Mrö. Nickleby erinnert werden. Nach dem Titel uno nach der Jnhalts-
anzeige sollte man vermuthen, das Werk habe die Aufgabe eines Lehrbuchs.
Darüber wird man nun freilich gleich auf den ersten Seiren enttäuscht, da der
Stil durchaus blumenreich und rhetorisch, aber keineswegs wissenschaftlich ist;
allein wenn man uns nach der eigentlichen Tendenz fragt, so finden wir keine
Antwort. Der Verfasser scheint sich ruhig seinen Inspirationen und äußern
Eindrücken überlassen zu haben. Er macht einige Bemerkungen über die Kunst,
dabei fällt ihm irgendein Citat aus einem Dichter ein, das gibt ihm Gelegen¬
heit, über das Citat und über den Dichter selbst sich in Erörterungen einzu¬
lassen, dann kommt wieder ein neues Citat, neue Bemerkungen darüber, und
so spinnt sich die Rede unbefangen weiter fort, ohne daß man auch nur den
geringsten Begriff davon hätte, was eigentlich bewiesen oder dargestellt werden
soll. Um,den Stil zu charakterisieren, greifen wir ein ganz beliebiges Beispiel,
S. 9, heraus, wo über das Schöne geredet wird. "So ist es thatvoll lebendige
Einheit, das volle mangellose Sein, wie Platon und Schelling sagen, die
Idee, welche ganz in der Erscheinung gegenwärtig, die Erscheinung, welche
ganz von der Idee gebildet und durchleuchtet ist. So haben wir im Schönen
einen Mikrokosmos, der den Sinn des ganzen Weltalls beseligend enthüllt;
ein Mysterium, das im sinnlichen Zeichen uns eine himmlische Gnadengabe
vermittelt, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen
eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und die
Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt
offenbart."

In diesem Stil ist das ganze Buch geschrieben, vom ersten Wort bis
zum letzten, i59 Seiten lang. Daß aus diese Weise nicht der geringste neue
Begriff festgestellt, daß auch sür bekannte Begriffe nicht das geringste neue
Merkmal aufgesunden werden kann, liegt auf der Hand. Der wissenschaftliche
Werth des ganzen Werks ist gleich Null.

Allein wir müssen bei der Kritik des Werks eine andere Seite in


Grenzboten. IV. -I8si. 38

Indessen sind das alles nur kleine Ausstellungen, die den poetischen Werth
deS Ganzen nicht im geringsten verkürzen. Jeder Freund echter Poesie wird
dem Verfasser für die schöne Gabe dankbar sein.


.j.-.'Ii-
Das Wesen und die Formen der Poesie. Ein Beitrag zur Philosophie des
Schönen und der Kunst. Mit literarhistorischen Erläuterungen. Von
Moriz Carriere. Leipzig, Brockhaus. —

Wer in der Wissenschaft an reinliche Arbeit gewöhnt ist, wird in den
Werken von Carriere nur mit großer Ueberwindung weiter vorschreiten können.
Die Unfähigkeit, einen bestimmten Gedanken in der Form, die ihm zukommt,
festzuhalten und nach allen Seiten zu verarbeiten, ist so groß, daß wir zuweilen
an Mrö. Nickleby erinnert werden. Nach dem Titel uno nach der Jnhalts-
anzeige sollte man vermuthen, das Werk habe die Aufgabe eines Lehrbuchs.
Darüber wird man nun freilich gleich auf den ersten Seiren enttäuscht, da der
Stil durchaus blumenreich und rhetorisch, aber keineswegs wissenschaftlich ist;
allein wenn man uns nach der eigentlichen Tendenz fragt, so finden wir keine
Antwort. Der Verfasser scheint sich ruhig seinen Inspirationen und äußern
Eindrücken überlassen zu haben. Er macht einige Bemerkungen über die Kunst,
dabei fällt ihm irgendein Citat aus einem Dichter ein, das gibt ihm Gelegen¬
heit, über das Citat und über den Dichter selbst sich in Erörterungen einzu¬
lassen, dann kommt wieder ein neues Citat, neue Bemerkungen darüber, und
so spinnt sich die Rede unbefangen weiter fort, ohne daß man auch nur den
geringsten Begriff davon hätte, was eigentlich bewiesen oder dargestellt werden
soll. Um,den Stil zu charakterisieren, greifen wir ein ganz beliebiges Beispiel,
S. 9, heraus, wo über das Schöne geredet wird. „So ist es thatvoll lebendige
Einheit, das volle mangellose Sein, wie Platon und Schelling sagen, die
Idee, welche ganz in der Erscheinung gegenwärtig, die Erscheinung, welche
ganz von der Idee gebildet und durchleuchtet ist. So haben wir im Schönen
einen Mikrokosmos, der den Sinn des ganzen Weltalls beseligend enthüllt;
ein Mysterium, das im sinnlichen Zeichen uns eine himmlische Gnadengabe
vermittelt, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen
eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und die
Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt
offenbart."

In diesem Stil ist das ganze Buch geschrieben, vom ersten Wort bis
zum letzten, i59 Seiten lang. Daß aus diese Weise nicht der geringste neue
Begriff festgestellt, daß auch sür bekannte Begriffe nicht das geringste neue
Merkmal aufgesunden werden kann, liegt auf der Hand. Der wissenschaftliche
Werth des ganzen Werks ist gleich Null.

Allein wir müssen bei der Kritik des Werks eine andere Seite in


Grenzboten. IV. -I8si. 38
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[0305] Indessen sind das alles nur kleine Ausstellungen, die den poetischen Werth deS Ganzen nicht im geringsten verkürzen. Jeder Freund echter Poesie wird dem Verfasser für die schöne Gabe dankbar sein. .j.-.'Ii- Das Wesen und die Formen der Poesie. Ein Beitrag zur Philosophie des Schönen und der Kunst. Mit literarhistorischen Erläuterungen. Von Moriz Carriere. Leipzig, Brockhaus. — Wer in der Wissenschaft an reinliche Arbeit gewöhnt ist, wird in den Werken von Carriere nur mit großer Ueberwindung weiter vorschreiten können. Die Unfähigkeit, einen bestimmten Gedanken in der Form, die ihm zukommt, festzuhalten und nach allen Seiten zu verarbeiten, ist so groß, daß wir zuweilen an Mrö. Nickleby erinnert werden. Nach dem Titel uno nach der Jnhalts- anzeige sollte man vermuthen, das Werk habe die Aufgabe eines Lehrbuchs. Darüber wird man nun freilich gleich auf den ersten Seiren enttäuscht, da der Stil durchaus blumenreich und rhetorisch, aber keineswegs wissenschaftlich ist; allein wenn man uns nach der eigentlichen Tendenz fragt, so finden wir keine Antwort. Der Verfasser scheint sich ruhig seinen Inspirationen und äußern Eindrücken überlassen zu haben. Er macht einige Bemerkungen über die Kunst, dabei fällt ihm irgendein Citat aus einem Dichter ein, das gibt ihm Gelegen¬ heit, über das Citat und über den Dichter selbst sich in Erörterungen einzu¬ lassen, dann kommt wieder ein neues Citat, neue Bemerkungen darüber, und so spinnt sich die Rede unbefangen weiter fort, ohne daß man auch nur den geringsten Begriff davon hätte, was eigentlich bewiesen oder dargestellt werden soll. Um,den Stil zu charakterisieren, greifen wir ein ganz beliebiges Beispiel, S. 9, heraus, wo über das Schöne geredet wird. „So ist es thatvoll lebendige Einheit, das volle mangellose Sein, wie Platon und Schelling sagen, die Idee, welche ganz in der Erscheinung gegenwärtig, die Erscheinung, welche ganz von der Idee gebildet und durchleuchtet ist. So haben wir im Schönen einen Mikrokosmos, der den Sinn des ganzen Weltalls beseligend enthüllt; ein Mysterium, das im sinnlichen Zeichen uns eine himmlische Gnadengabe vermittelt, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen eröffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt und die Energie der Liebe und Freiheit als Grund, Band und Ziel der Welt offenbart." In diesem Stil ist das ganze Buch geschrieben, vom ersten Wort bis zum letzten, i59 Seiten lang. Daß aus diese Weise nicht der geringste neue Begriff festgestellt, daß auch sür bekannte Begriffe nicht das geringste neue Merkmal aufgesunden werden kann, liegt auf der Hand. Der wissenschaftliche Werth des ganzen Werks ist gleich Null. Allein wir müssen bei der Kritik des Werks eine andere Seite in Grenzboten. IV. -I8si. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/305>, abgerufen am 28.12.2024.