Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.Religionsphilosophie. Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vor¬ Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Atlas Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat, Nach Herrn Braun dagegen sind Ilias und Odyssee Dichtungen im Religionsphilosophie. Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vor¬ Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Atlas Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat, Nach Herrn Braun dagegen sind Ilias und Odyssee Dichtungen im <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98537"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Religionsphilosophie.</head><lb/> <p xml:id="ID_707"> Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vor¬<lb/> lesungen von Julius Braun. Mannheim, Bassermann u. Matthy. —</p><lb/> <p xml:id="ID_708"> Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen<lb/> Werken wol nur sehr selten vorkommen dürfte, nämlich durch eine glänzende<lb/> Darstellung. Der Verfasser weiß die Gegenden, in denen er sich bewegt,' der<lb/> Einbildungskraft in so kräftigen und cinmuthigen Farben vorzuführen, und<lb/> seine mythologischen Ansichten so zierlich, gleichsam arabeskenartig darin zu<lb/> verweben, daß jeder Leser gefesselt wird, und daß sich wenigstens in vielen<lb/> Fällen für einen Augenblick die Ansicht des Verfassers der Phantasie ein¬<lb/> schmeichelt. An sich wäre es nun vortrefflich, wenn man zu gleicher Zeit über<lb/> die wichtigsten Fragen der Wissenschaft belehrt und anmuthig unterhalten wer¬<lb/> den könnte; wir müssen aber dennoch bezweifeln, daß dies der richtige Weg<lb/> ist, das Publicum in sehr schwierige Fragen einzuführen, die nicht durch die<lb/> Einbildungskrast, sondern durch den kritischen, allseitig prüfenden Verstand<lb/> entschieden werden müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_709"> Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Atlas<lb/> und Odyssee wie zwei Kunstgedichte moderner Art, verfaßt von einem Dichter<lb/> Namens Homer, betrachtet, und das gesammte griechische Göttersystem aus<lb/> Acgypten herleitet. Er ist also in der ersten Beziehung noch viel rechtgläubiger,<lb/> als selbst die Engländer, die wenigstens den Verfasser der Odyssee von jenem<lb/> der Ilias trennen. Abgesehen von der Kühnheit, sich vor der Erfindung der<lb/> Schreibekunst einen Dichter zu denken, der für seine künstlerischen Zwecke weite<lb/> Reisen macht, um in seinen Werken die Localfarbe streng festzuhalten, und<lb/> der dann nach einem bestimmten Plan verfährt, die Ereignisse gruppirt, den<lb/> Göttern neue Bedeutungen beilegt und tgi. — eine Schwierigkeit, die wir hier<lb/> nicht berühren, da wir hoffen dürfen, in nächster Zeit einen Abriß von dem<lb/> gegenwärtigen Stand der Streitfrage zu geben — liegt dieser Ansicht noch ein<lb/> anderes Moment zu Grunde, das uns hier wichtiger erscheint, weil es sich<lb/> auf die Principien der Religion und Dichtkunst überhaupt bezieht.</p><lb/> <p xml:id="ID_710"> Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat,<lb/> sind die homerischen Dichtungen, gerade wie die spätere Plastik, Ausflüsse des<lb/> griechischen Volksgeistes, der durch das Organ verschiedener Künstler sein reli¬<lb/> giöses Bewußtsein entwickelt und firirt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_711"> Nach Herrn Braun dagegen sind Ilias und Odyssee Dichtungen im<lb/> strengsten Sinne des Wortes, d. h. bewußte Erfindungen zu künstlerischem<lb/> Zweck, zum Theil mit Nichtachtung, zum Theil im offenen Widerspruch gegen<lb/> die herrschende Religion.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0223]
Religionsphilosophie.
Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vor¬
lesungen von Julius Braun. Mannheim, Bassermann u. Matthy. —
Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen
Werken wol nur sehr selten vorkommen dürfte, nämlich durch eine glänzende
Darstellung. Der Verfasser weiß die Gegenden, in denen er sich bewegt,' der
Einbildungskraft in so kräftigen und cinmuthigen Farben vorzuführen, und
seine mythologischen Ansichten so zierlich, gleichsam arabeskenartig darin zu
verweben, daß jeder Leser gefesselt wird, und daß sich wenigstens in vielen
Fällen für einen Augenblick die Ansicht des Verfassers der Phantasie ein¬
schmeichelt. An sich wäre es nun vortrefflich, wenn man zu gleicher Zeit über
die wichtigsten Fragen der Wissenschaft belehrt und anmuthig unterhalten wer¬
den könnte; wir müssen aber dennoch bezweifeln, daß dies der richtige Weg
ist, das Publicum in sehr schwierige Fragen einzuführen, die nicht durch die
Einbildungskrast, sondern durch den kritischen, allseitig prüfenden Verstand
entschieden werden müssen.
Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Atlas
und Odyssee wie zwei Kunstgedichte moderner Art, verfaßt von einem Dichter
Namens Homer, betrachtet, und das gesammte griechische Göttersystem aus
Acgypten herleitet. Er ist also in der ersten Beziehung noch viel rechtgläubiger,
als selbst die Engländer, die wenigstens den Verfasser der Odyssee von jenem
der Ilias trennen. Abgesehen von der Kühnheit, sich vor der Erfindung der
Schreibekunst einen Dichter zu denken, der für seine künstlerischen Zwecke weite
Reisen macht, um in seinen Werken die Localfarbe streng festzuhalten, und
der dann nach einem bestimmten Plan verfährt, die Ereignisse gruppirt, den
Göttern neue Bedeutungen beilegt und tgi. — eine Schwierigkeit, die wir hier
nicht berühren, da wir hoffen dürfen, in nächster Zeit einen Abriß von dem
gegenwärtigen Stand der Streitfrage zu geben — liegt dieser Ansicht noch ein
anderes Moment zu Grunde, das uns hier wichtiger erscheint, weil es sich
auf die Principien der Religion und Dichtkunst überhaupt bezieht.
Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat,
sind die homerischen Dichtungen, gerade wie die spätere Plastik, Ausflüsse des
griechischen Volksgeistes, der durch das Organ verschiedener Künstler sein reli¬
giöses Bewußtsein entwickelt und firirt hat.
Nach Herrn Braun dagegen sind Ilias und Odyssee Dichtungen im
strengsten Sinne des Wortes, d. h. bewußte Erfindungen zu künstlerischem
Zweck, zum Theil mit Nichtachtung, zum Theil im offenen Widerspruch gegen
die herrschende Religion.
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