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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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ihren Richter hätten gezogen werden müssen. Es scheint also keine Gattung
mißgcborner oder verwahrloster menschlicher Wesen zu geben, in denen das
Licht des Unterrichts, der einfachen Unterweisung in sittlichen und vernunft¬
gemäßen Begriffen solche Wunder zu wirken im Stande wäre, wie unter den
Taubstummen. Anerzogen erhebt sich der Taubstumme kaum über die Rohheit
thierischer Jnstincte, während die Erziehung ihn stets sanft und gelehrig stimmt,
ohne daß die Welt ihm ihre Verführungen jemals so nahe zu rücken vermöchte,
wie dem vollsinnigen Menschen. Abgesehen von seinem äußern Umfang ist
daher der Taubstummenunterricht der wichtigste Zweig der gesammten öffent¬
lichen Erziehung zu nennen. Er zählt nicht nur unter den edelsten Bestrebun¬
gen heutiger Humanität mit, sondern er gehört auch zu den Gegenständen, welche
dn Staat nach einer klar gegebenen Pflicht in die Kreise seiner überlegenen,
Thätigkeit zu ziehen hat.

Steht dieser Grundsatz einmal fest, so sind die Schwierigkeiten der Durch¬
führung allesammt untergeordnet und leicht zu heben. Selbst wenn der Finanz-
minister irgendeines deutschen Staats für alle bildungsfähige Taubstumme
seines Landes die Unterhaltungskosten der Anstalt herbeischaffen sollte, würde
er schwerlich sagen, das sei für ihn eine unerschwingliche Leistung. Die
Zahl dieser Unglücklichen ist glücklicherweise überall so gering, daß ihre besser
begabten Brüder sich um ihretwillen nicht grade in Schulden zu stürzen brauchen.
Zunächst hat-allerdings die eigne Familie des Kindes, alsdann die Gemeinde
die Mittel herzugeben. Aber wenn beider Kräfte nicht ausreichen, so wird es
auch keinen deutschen Staat in finanzielle Verlegenheit setzen, hier aushelfend
einzutreten. Es ist keine sehr beträchtliche Ausgabe, und doch vielleicht die
lohnendste von allen in seinem Budget.




Wochenbericht.

-- In den vier ersten Tagen dieser Woche
war London berauscht durch die Nachricht vom Falle Sebastvpols, die ihm Buka-
rcstcr und Wiener Depeschcnfabrikantcn mit großem Geschick und Nachdruck kredenzt
hatten. Darauf folgte naturgemäß der Katzenjammer der Enttäuschung. Wir haben
ihn alle verdient. An Mirakel darf heute zu Tage blos der Baier und der Neapo¬
litaner glauben, und auch diese nur, wenn es ihnen von ihren Bischöfen geboten
wird. Der Orient war von jeher das Land, von wo die Wunder nach dem Westen
exportirt wurden, und dem protestantischen England ist nur der eine Trost geblieben,
daß es dies Mal seine Gläubigkeit mit allen andern Confessionen Europas theilte.
Den Katzenjammer haben wir aber größtentheils allein, denn die englischen Regi¬
menter scheinen am meisten bei der Schlacht am Almaflnß gelitten zu haben. Nicht
14"v sondern über 2000 Engländer wurden getödtet oder verwundet, darunter eine


ihren Richter hätten gezogen werden müssen. Es scheint also keine Gattung
mißgcborner oder verwahrloster menschlicher Wesen zu geben, in denen das
Licht des Unterrichts, der einfachen Unterweisung in sittlichen und vernunft¬
gemäßen Begriffen solche Wunder zu wirken im Stande wäre, wie unter den
Taubstummen. Anerzogen erhebt sich der Taubstumme kaum über die Rohheit
thierischer Jnstincte, während die Erziehung ihn stets sanft und gelehrig stimmt,
ohne daß die Welt ihm ihre Verführungen jemals so nahe zu rücken vermöchte,
wie dem vollsinnigen Menschen. Abgesehen von seinem äußern Umfang ist
daher der Taubstummenunterricht der wichtigste Zweig der gesammten öffent¬
lichen Erziehung zu nennen. Er zählt nicht nur unter den edelsten Bestrebun¬
gen heutiger Humanität mit, sondern er gehört auch zu den Gegenständen, welche
dn Staat nach einer klar gegebenen Pflicht in die Kreise seiner überlegenen,
Thätigkeit zu ziehen hat.

Steht dieser Grundsatz einmal fest, so sind die Schwierigkeiten der Durch¬
führung allesammt untergeordnet und leicht zu heben. Selbst wenn der Finanz-
minister irgendeines deutschen Staats für alle bildungsfähige Taubstumme
seines Landes die Unterhaltungskosten der Anstalt herbeischaffen sollte, würde
er schwerlich sagen, das sei für ihn eine unerschwingliche Leistung. Die
Zahl dieser Unglücklichen ist glücklicherweise überall so gering, daß ihre besser
begabten Brüder sich um ihretwillen nicht grade in Schulden zu stürzen brauchen.
Zunächst hat-allerdings die eigne Familie des Kindes, alsdann die Gemeinde
die Mittel herzugeben. Aber wenn beider Kräfte nicht ausreichen, so wird es
auch keinen deutschen Staat in finanzielle Verlegenheit setzen, hier aushelfend
einzutreten. Es ist keine sehr beträchtliche Ausgabe, und doch vielleicht die
lohnendste von allen in seinem Budget.




Wochenbericht.

— In den vier ersten Tagen dieser Woche
war London berauscht durch die Nachricht vom Falle Sebastvpols, die ihm Buka-
rcstcr und Wiener Depeschcnfabrikantcn mit großem Geschick und Nachdruck kredenzt
hatten. Darauf folgte naturgemäß der Katzenjammer der Enttäuschung. Wir haben
ihn alle verdient. An Mirakel darf heute zu Tage blos der Baier und der Neapo¬
litaner glauben, und auch diese nur, wenn es ihnen von ihren Bischöfen geboten
wird. Der Orient war von jeher das Land, von wo die Wunder nach dem Westen
exportirt wurden, und dem protestantischen England ist nur der eine Trost geblieben,
daß es dies Mal seine Gläubigkeit mit allen andern Confessionen Europas theilte.
Den Katzenjammer haben wir aber größtentheils allein, denn die englischen Regi¬
menter scheinen am meisten bei der Schlacht am Almaflnß gelitten zu haben. Nicht
14»v sondern über 2000 Engländer wurden getödtet oder verwundet, darunter eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/124>, abgerufen am 28.12.2024.