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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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welche die Schweiz vom deutschen Reiche losgerissen wurde. Unglücklicher
Schiller, warum hast du dich nicht in Augsburg berathen, bevor du deinen
Tell schriebst!




Iteue Romane.
Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in zwölf Bänden.
Zehnter Band. Berlin, G. Reimer. --

Als wir den Beginn der neuen Sammlung Tieckscher Novellen anzeigten,
versprachen wir noch einmal ausführlicher darauf einzugehen und namentlich
ihr Verhältniß zu der literarhistorischen Entwicklung der Zeit ins Auge zu
fassen. Ihre Wichtigkeit für den Uebergang der romantischen in die jung¬
deutsche Periode wird man nicht leicht verkennen, auch wenn man ihren Kunst-
werth gering anzuschlagen geneigt ist. Es liegt in ihnen, wenn wir sie näher
zergliedern, dasselbe feine Gift, welches in den früheren Schriften der Roman¬
tiker zersetzend auf alle wirklichen Gestalten des Lebens einwirkt, und doch zeigen
sie ganz entgegengesetzt gegen diese frühern Dichtungen wenigstens auf der
Oberfläche den Schein des modernsten Lebens. Es zeigt sich in ihrer Phy¬
siognomie jene krankhafte Blässe, die aus raffinirter Cultur, verfrüht und über¬
steigert im Lebensgenuß und voreiliger Verarbeitung aller Illusionen hervor¬
geht; aber es ist nicht zu leugnen, diese Blässe hat etwas Interessantes, sozusagen
Aristokratisches, und wie die Frauen zuweilen die krankhaften Farben und ab¬
gespannten Züge eines Blasirtcn nicht ungern sehen, so dürfte auch in diesen
feinen, obgleich eigentlich kraftlosen Gebilden eine gewisse Gefahr für die
Phantasie unsrer Zeit liegen.

Die Novellen zerfallen in drei Hauptgruppen: in die phantastischen im
Sinne der alten Romantik, in die historischen und in diejenigen, die sich mit
dem modernen Lehen beschäftigen. Wir gehen hier zunächst auf die zweite
Gruppe ein, zu welcher folgende Novellen gehören: Der Aufruhr in den Ce--
verum (im ersten Entwurf 1800, angefangen -1820, bis auf seine gegenwärtige
Gestalt vollendet 1826). Dichterleben, in drei Novellen (1826 -- 30). Der
wiedergefundene griechische Kaiser (1831). Der Hexensabbath) (1832). Der Tod
des Dichters (1833). Victoria Accorombona (1833).

Bei der Betrachtung dieser Novellen drängt sich uns zunächst eine Be¬
merkung auf, die sich auf das Wirken der romantischen Schule überhaupt
bezieht. Sie unterschied sich dadurch von der früheren rationalistischen Bildung,
daß sie einen sehr feinen und eindringenden Sinn für die charakteristischen


welche die Schweiz vom deutschen Reiche losgerissen wurde. Unglücklicher
Schiller, warum hast du dich nicht in Augsburg berathen, bevor du deinen
Tell schriebst!




Iteue Romane.
Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in zwölf Bänden.
Zehnter Band. Berlin, G. Reimer. —

Als wir den Beginn der neuen Sammlung Tieckscher Novellen anzeigten,
versprachen wir noch einmal ausführlicher darauf einzugehen und namentlich
ihr Verhältniß zu der literarhistorischen Entwicklung der Zeit ins Auge zu
fassen. Ihre Wichtigkeit für den Uebergang der romantischen in die jung¬
deutsche Periode wird man nicht leicht verkennen, auch wenn man ihren Kunst-
werth gering anzuschlagen geneigt ist. Es liegt in ihnen, wenn wir sie näher
zergliedern, dasselbe feine Gift, welches in den früheren Schriften der Roman¬
tiker zersetzend auf alle wirklichen Gestalten des Lebens einwirkt, und doch zeigen
sie ganz entgegengesetzt gegen diese frühern Dichtungen wenigstens auf der
Oberfläche den Schein des modernsten Lebens. Es zeigt sich in ihrer Phy¬
siognomie jene krankhafte Blässe, die aus raffinirter Cultur, verfrüht und über¬
steigert im Lebensgenuß und voreiliger Verarbeitung aller Illusionen hervor¬
geht; aber es ist nicht zu leugnen, diese Blässe hat etwas Interessantes, sozusagen
Aristokratisches, und wie die Frauen zuweilen die krankhaften Farben und ab¬
gespannten Züge eines Blasirtcn nicht ungern sehen, so dürfte auch in diesen
feinen, obgleich eigentlich kraftlosen Gebilden eine gewisse Gefahr für die
Phantasie unsrer Zeit liegen.

Die Novellen zerfallen in drei Hauptgruppen: in die phantastischen im
Sinne der alten Romantik, in die historischen und in diejenigen, die sich mit
dem modernen Lehen beschäftigen. Wir gehen hier zunächst auf die zweite
Gruppe ein, zu welcher folgende Novellen gehören: Der Aufruhr in den Ce--
verum (im ersten Entwurf 1800, angefangen -1820, bis auf seine gegenwärtige
Gestalt vollendet 1826). Dichterleben, in drei Novellen (1826 — 30). Der
wiedergefundene griechische Kaiser (1831). Der Hexensabbath) (1832). Der Tod
des Dichters (1833). Victoria Accorombona (1833).

Bei der Betrachtung dieser Novellen drängt sich uns zunächst eine Be¬
merkung auf, die sich auf das Wirken der romantischen Schule überhaupt
bezieht. Sie unterschied sich dadurch von der früheren rationalistischen Bildung,
daß sie einen sehr feinen und eindringenden Sinn für die charakteristischen


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[0096] welche die Schweiz vom deutschen Reiche losgerissen wurde. Unglücklicher Schiller, warum hast du dich nicht in Augsburg berathen, bevor du deinen Tell schriebst! Iteue Romane. Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in zwölf Bänden. Zehnter Band. Berlin, G. Reimer. — Als wir den Beginn der neuen Sammlung Tieckscher Novellen anzeigten, versprachen wir noch einmal ausführlicher darauf einzugehen und namentlich ihr Verhältniß zu der literarhistorischen Entwicklung der Zeit ins Auge zu fassen. Ihre Wichtigkeit für den Uebergang der romantischen in die jung¬ deutsche Periode wird man nicht leicht verkennen, auch wenn man ihren Kunst- werth gering anzuschlagen geneigt ist. Es liegt in ihnen, wenn wir sie näher zergliedern, dasselbe feine Gift, welches in den früheren Schriften der Roman¬ tiker zersetzend auf alle wirklichen Gestalten des Lebens einwirkt, und doch zeigen sie ganz entgegengesetzt gegen diese frühern Dichtungen wenigstens auf der Oberfläche den Schein des modernsten Lebens. Es zeigt sich in ihrer Phy¬ siognomie jene krankhafte Blässe, die aus raffinirter Cultur, verfrüht und über¬ steigert im Lebensgenuß und voreiliger Verarbeitung aller Illusionen hervor¬ geht; aber es ist nicht zu leugnen, diese Blässe hat etwas Interessantes, sozusagen Aristokratisches, und wie die Frauen zuweilen die krankhaften Farben und ab¬ gespannten Züge eines Blasirtcn nicht ungern sehen, so dürfte auch in diesen feinen, obgleich eigentlich kraftlosen Gebilden eine gewisse Gefahr für die Phantasie unsrer Zeit liegen. Die Novellen zerfallen in drei Hauptgruppen: in die phantastischen im Sinne der alten Romantik, in die historischen und in diejenigen, die sich mit dem modernen Lehen beschäftigen. Wir gehen hier zunächst auf die zweite Gruppe ein, zu welcher folgende Novellen gehören: Der Aufruhr in den Ce-- verum (im ersten Entwurf 1800, angefangen -1820, bis auf seine gegenwärtige Gestalt vollendet 1826). Dichterleben, in drei Novellen (1826 — 30). Der wiedergefundene griechische Kaiser (1831). Der Hexensabbath) (1832). Der Tod des Dichters (1833). Victoria Accorombona (1833). Bei der Betrachtung dieser Novellen drängt sich uns zunächst eine Be¬ merkung auf, die sich auf das Wirken der romantischen Schule überhaupt bezieht. Sie unterschied sich dadurch von der früheren rationalistischen Bildung, daß sie einen sehr feinen und eindringenden Sinn für die charakteristischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/96>, abgerufen am 31.08.2024.