Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen neueren Werken von Dumas begegnet, an einer zu großen Breite und
-Nachlässigkeit der Darstellung. Herr Dumas gebraucht jedes Mal zu einer Er¬
zählung, die einem anderen Schriftsteller nur eine Seite kosten würde, wenig¬
stens zehn Seiten und zwar liegt diese Breite keineswegs in der sorgfältigen
humoristischen Ausführung wie bei den Engländern, sondern in Wiederholungen
und in kritikloser Ausmalung von Nebenumständen. Aber dies Mal wird uns
die Breite weniger empfindlich, weil das Interesse am Stoff uns für die
Mängel des Stils entschädigt. Herr Dumas schildert uns die Irrfahrten und
Mühseligkeiten eines jungen Künstlers, der trotz aller Entbehrungen unver¬
drossen seinem Ziele nachgeht, bis er es endlich erreicht. In diesem Fache ist
er wirklich zu Hause; er weiß uns in die Details mit einer liebenswürdigen
Anschaulichkeit einzuführen und er vermeidet den sentimentalen Ton, in den
er bisweilen verfällt, wenn ihm der Stoff ausgeht. So schlimm auch zuweilen
die Mühseligkeiten aussehen, denen der ehrgeizige Künstler sich unterziehen muß,
so treten wir doch aus der heiteren Stimmung und dem komischen Ton nie
heraus. Die Abenteuer sind so bunt und spaßhaft, daß sie jedermann eine
angenehme Lectüre gewähren. --


IlLlüne i>!>r Henri Ani-gor. Knixelles <U Loip-iA, Kiessling el, Loup. --

Diese Novelle, die erst zur Hälfte vollendet ist, bildet den zweiten Theil
eines größeren Ganzen: "die Wassertrinker." Nach der leidigen, durch Balzac
eingeführten Manier, die nämlichen Personen durch eine ganze Reihe von Ge¬
schichten hindurch zu verfolgen, hat sich Herr Murger einen ganzen Cyklus von
Novellen ausgedacht, in denen er die Erlebnisse einer seltsamen Gesellschaft
von Kunstenthusiasten auszumalen gedenkt. Diese Gesellschaft bildet den
Gegensatz zu den liederlichen Künstlern, die er in seinem ersten Werk, dem Zi¬
geunerleben von Paris, geschildert hat, und durch die er sich eine so schnelle
und lebhafte Anerkennung des Lesepublicums erwarb. Diese angeblichen
Künstler waren nichts als gemüthliche Vagabunden, welche die Kunst nur
zum Vorwand gebrauchten, um ein nutzloses und unstetes Schlaraffenleben zu
führen. Sie waren, wenn man es bei Lichte besieht, die Rückübersetzung der
Dumasschen Musketiere in ihre eigentlichen Urbilder. Denn bei den wunder¬
lichen Geschichten, die Dumas seinen kriegerischen Helden erleben läßt, hatte
er immer, wenn auch nicht die wirklichen Erfahrungen, doch wenigstens die
Phantasien und Lügen seiner eignen Standesgenossen vor Augen. Und Herr
Murger, der bei der Quelle bleibt, hat in der Composition, Haltung und
Zeichnung ganz die Manier seines beliebten Vorgängers beibehalten. Aber
wenn er in der Composition und Erfindung ebenso lose, nachlässig und un¬
künstlerisch verfährt, als Dumas, so übertrifft er ihn bei der Ausführung des
Details an Feinheit und Eleganz bei weitem. Er gehört gegenwärtig zu den


43*

lichen neueren Werken von Dumas begegnet, an einer zu großen Breite und
-Nachlässigkeit der Darstellung. Herr Dumas gebraucht jedes Mal zu einer Er¬
zählung, die einem anderen Schriftsteller nur eine Seite kosten würde, wenig¬
stens zehn Seiten und zwar liegt diese Breite keineswegs in der sorgfältigen
humoristischen Ausführung wie bei den Engländern, sondern in Wiederholungen
und in kritikloser Ausmalung von Nebenumständen. Aber dies Mal wird uns
die Breite weniger empfindlich, weil das Interesse am Stoff uns für die
Mängel des Stils entschädigt. Herr Dumas schildert uns die Irrfahrten und
Mühseligkeiten eines jungen Künstlers, der trotz aller Entbehrungen unver¬
drossen seinem Ziele nachgeht, bis er es endlich erreicht. In diesem Fache ist
er wirklich zu Hause; er weiß uns in die Details mit einer liebenswürdigen
Anschaulichkeit einzuführen und er vermeidet den sentimentalen Ton, in den
er bisweilen verfällt, wenn ihm der Stoff ausgeht. So schlimm auch zuweilen
die Mühseligkeiten aussehen, denen der ehrgeizige Künstler sich unterziehen muß,
so treten wir doch aus der heiteren Stimmung und dem komischen Ton nie
heraus. Die Abenteuer sind so bunt und spaßhaft, daß sie jedermann eine
angenehme Lectüre gewähren. —


IlLlüne i>!>r Henri Ani-gor. Knixelles <U Loip-iA, Kiessling el, Loup. —

Diese Novelle, die erst zur Hälfte vollendet ist, bildet den zweiten Theil
eines größeren Ganzen: „die Wassertrinker." Nach der leidigen, durch Balzac
eingeführten Manier, die nämlichen Personen durch eine ganze Reihe von Ge¬
schichten hindurch zu verfolgen, hat sich Herr Murger einen ganzen Cyklus von
Novellen ausgedacht, in denen er die Erlebnisse einer seltsamen Gesellschaft
von Kunstenthusiasten auszumalen gedenkt. Diese Gesellschaft bildet den
Gegensatz zu den liederlichen Künstlern, die er in seinem ersten Werk, dem Zi¬
geunerleben von Paris, geschildert hat, und durch die er sich eine so schnelle
und lebhafte Anerkennung des Lesepublicums erwarb. Diese angeblichen
Künstler waren nichts als gemüthliche Vagabunden, welche die Kunst nur
zum Vorwand gebrauchten, um ein nutzloses und unstetes Schlaraffenleben zu
führen. Sie waren, wenn man es bei Lichte besieht, die Rückübersetzung der
Dumasschen Musketiere in ihre eigentlichen Urbilder. Denn bei den wunder¬
lichen Geschichten, die Dumas seinen kriegerischen Helden erleben läßt, hatte
er immer, wenn auch nicht die wirklichen Erfahrungen, doch wenigstens die
Phantasien und Lügen seiner eignen Standesgenossen vor Augen. Und Herr
Murger, der bei der Quelle bleibt, hat in der Composition, Haltung und
Zeichnung ganz die Manier seines beliebten Vorgängers beibehalten. Aber
wenn er in der Composition und Erfindung ebenso lose, nachlässig und un¬
künstlerisch verfährt, als Dumas, so übertrifft er ihn bei der Ausführung des
Details an Feinheit und Eleganz bei weitem. Er gehört gegenwärtig zu den


43*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0107" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281258"/>
            <p xml:id="ID_318" prev="#ID_317"> lichen neueren Werken von Dumas begegnet, an einer zu großen Breite und<lb/>
-Nachlässigkeit der Darstellung. Herr Dumas gebraucht jedes Mal zu einer Er¬<lb/>
zählung, die einem anderen Schriftsteller nur eine Seite kosten würde, wenig¬<lb/>
stens zehn Seiten und zwar liegt diese Breite keineswegs in der sorgfältigen<lb/>
humoristischen Ausführung wie bei den Engländern, sondern in Wiederholungen<lb/>
und in kritikloser Ausmalung von Nebenumständen. Aber dies Mal wird uns<lb/>
die Breite weniger empfindlich, weil das Interesse am Stoff uns für die<lb/>
Mängel des Stils entschädigt. Herr Dumas schildert uns die Irrfahrten und<lb/>
Mühseligkeiten eines jungen Künstlers, der trotz aller Entbehrungen unver¬<lb/>
drossen seinem Ziele nachgeht, bis er es endlich erreicht. In diesem Fache ist<lb/>
er wirklich zu Hause; er weiß uns in die Details mit einer liebenswürdigen<lb/>
Anschaulichkeit einzuführen und er vermeidet den sentimentalen Ton, in den<lb/>
er bisweilen verfällt, wenn ihm der Stoff ausgeht. So schlimm auch zuweilen<lb/>
die Mühseligkeiten aussehen, denen der ehrgeizige Künstler sich unterziehen muß,<lb/>
so treten wir doch aus der heiteren Stimmung und dem komischen Ton nie<lb/>
heraus. Die Abenteuer sind so bunt und spaßhaft, daß sie jedermann eine<lb/>
angenehme Lectüre gewähren. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> IlLlüne i&gt;!&gt;r Henri Ani-gor.  Knixelles &lt;U Loip-iA, Kiessling el, Loup. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_319" next="#ID_320"> Diese Novelle, die erst zur Hälfte vollendet ist, bildet den zweiten Theil<lb/>
eines größeren Ganzen: &#x201E;die Wassertrinker." Nach der leidigen, durch Balzac<lb/>
eingeführten Manier, die nämlichen Personen durch eine ganze Reihe von Ge¬<lb/>
schichten hindurch zu verfolgen, hat sich Herr Murger einen ganzen Cyklus von<lb/>
Novellen ausgedacht, in denen er die Erlebnisse einer seltsamen Gesellschaft<lb/>
von Kunstenthusiasten auszumalen gedenkt. Diese Gesellschaft bildet den<lb/>
Gegensatz zu den liederlichen Künstlern, die er in seinem ersten Werk, dem Zi¬<lb/>
geunerleben von Paris, geschildert hat, und durch die er sich eine so schnelle<lb/>
und lebhafte Anerkennung des Lesepublicums erwarb. Diese angeblichen<lb/>
Künstler waren nichts als gemüthliche Vagabunden, welche die Kunst nur<lb/>
zum Vorwand gebrauchten, um ein nutzloses und unstetes Schlaraffenleben zu<lb/>
führen. Sie waren, wenn man es bei Lichte besieht, die Rückübersetzung der<lb/>
Dumasschen Musketiere in ihre eigentlichen Urbilder. Denn bei den wunder¬<lb/>
lichen Geschichten, die Dumas seinen kriegerischen Helden erleben läßt, hatte<lb/>
er immer, wenn auch nicht die wirklichen Erfahrungen, doch wenigstens die<lb/>
Phantasien und Lügen seiner eignen Standesgenossen vor Augen. Und Herr<lb/>
Murger, der bei der Quelle bleibt, hat in der Composition, Haltung und<lb/>
Zeichnung ganz die Manier seines beliebten Vorgängers beibehalten. Aber<lb/>
wenn er in der Composition und Erfindung ebenso lose, nachlässig und un¬<lb/>
künstlerisch verfährt, als Dumas, so übertrifft er ihn bei der Ausführung des<lb/>
Details an Feinheit und Eleganz bei weitem.  Er gehört gegenwärtig zu den</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 43*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0107] lichen neueren Werken von Dumas begegnet, an einer zu großen Breite und -Nachlässigkeit der Darstellung. Herr Dumas gebraucht jedes Mal zu einer Er¬ zählung, die einem anderen Schriftsteller nur eine Seite kosten würde, wenig¬ stens zehn Seiten und zwar liegt diese Breite keineswegs in der sorgfältigen humoristischen Ausführung wie bei den Engländern, sondern in Wiederholungen und in kritikloser Ausmalung von Nebenumständen. Aber dies Mal wird uns die Breite weniger empfindlich, weil das Interesse am Stoff uns für die Mängel des Stils entschädigt. Herr Dumas schildert uns die Irrfahrten und Mühseligkeiten eines jungen Künstlers, der trotz aller Entbehrungen unver¬ drossen seinem Ziele nachgeht, bis er es endlich erreicht. In diesem Fache ist er wirklich zu Hause; er weiß uns in die Details mit einer liebenswürdigen Anschaulichkeit einzuführen und er vermeidet den sentimentalen Ton, in den er bisweilen verfällt, wenn ihm der Stoff ausgeht. So schlimm auch zuweilen die Mühseligkeiten aussehen, denen der ehrgeizige Künstler sich unterziehen muß, so treten wir doch aus der heiteren Stimmung und dem komischen Ton nie heraus. Die Abenteuer sind so bunt und spaßhaft, daß sie jedermann eine angenehme Lectüre gewähren. — IlLlüne i>!>r Henri Ani-gor. Knixelles <U Loip-iA, Kiessling el, Loup. — Diese Novelle, die erst zur Hälfte vollendet ist, bildet den zweiten Theil eines größeren Ganzen: „die Wassertrinker." Nach der leidigen, durch Balzac eingeführten Manier, die nämlichen Personen durch eine ganze Reihe von Ge¬ schichten hindurch zu verfolgen, hat sich Herr Murger einen ganzen Cyklus von Novellen ausgedacht, in denen er die Erlebnisse einer seltsamen Gesellschaft von Kunstenthusiasten auszumalen gedenkt. Diese Gesellschaft bildet den Gegensatz zu den liederlichen Künstlern, die er in seinem ersten Werk, dem Zi¬ geunerleben von Paris, geschildert hat, und durch die er sich eine so schnelle und lebhafte Anerkennung des Lesepublicums erwarb. Diese angeblichen Künstler waren nichts als gemüthliche Vagabunden, welche die Kunst nur zum Vorwand gebrauchten, um ein nutzloses und unstetes Schlaraffenleben zu führen. Sie waren, wenn man es bei Lichte besieht, die Rückübersetzung der Dumasschen Musketiere in ihre eigentlichen Urbilder. Denn bei den wunder¬ lichen Geschichten, die Dumas seinen kriegerischen Helden erleben läßt, hatte er immer, wenn auch nicht die wirklichen Erfahrungen, doch wenigstens die Phantasien und Lügen seiner eignen Standesgenossen vor Augen. Und Herr Murger, der bei der Quelle bleibt, hat in der Composition, Haltung und Zeichnung ganz die Manier seines beliebten Vorgängers beibehalten. Aber wenn er in der Composition und Erfindung ebenso lose, nachlässig und un¬ künstlerisch verfährt, als Dumas, so übertrifft er ihn bei der Ausführung des Details an Feinheit und Eleganz bei weitem. Er gehört gegenwärtig zu den 43*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/107
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/107>, abgerufen am 27.07.2024.