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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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der geschicktesten. Er ist auch nicht ganz' ohne eigene Eigenthümlichkeit; seine
Empfindung ist wahr und im ganzen tüchtig; wir möchten aber doch wünschen,
daß man Neben den großen Vorzügen Gotthelfs, auf die wir selber immer sehr
gern aufmerksam gemacht haben, nicht anch seine Fehler nachahmen wollte. Sein
lebensvoller Humor, seine frischen Farben, die feste Hand in seiner Zeichnung,
seine kräftige, wenn auch etwas derbe Plastik, das alles sind höchst positive Eigen¬
schaften, die wol ein Talent zweiten Ranges zur Nachahmung anlocken können;
aber die Breite in feinen Erzählungen und die vollständige Formlosigkeit in seinem
Stil wie in seiner Komposition sollte man ihm nicht nachmachen, denn es sind
offenbare Fehler, die der Verbreitung seiner Schriften großen Abbruch thun.
Wenn man auch mit seinen Erfindungen einen erbaulichen Zweck verbindet, so
kann man diesen doch nnr dadurch erreichen, daß man zunächst das Gesetz der
Romandichtung im Auge behält, d. h. daß man den Leser spannt, unterhält
und fesselt. ----


Aus deck Leben eines Handwerkers. Von Emile Souvestre. Deutsch von
P. H. Sillig. -- Leipzig, Costenol'le. --

Die Schriften von Sonvestre, die gegenwärtig in Frankreich einen so großen
Anklang finden, sind ein sicheres Zeichen dafür, daß die Richtung aus volkstüm¬
liche Poesie, wie sie uns in Deutschland entgegentritt, keine zufällige ist. Indem
die Franzosen sich anf dieses Genre geworfen haben, das wir als die nothwen¬
dige Reaction gegen die Zerfahrenheit, Unstetigkeit und Blasirtheit unserer gewöhn¬
lichen Romandichtung auffassen müssen, kommt ihnen dabei ihr Talent zur Erzäh¬
lung sehr zu statten, in dem sie uns noch immer bei weitem übertreffen. Die
vorliegende Geschichte ist sehr hübsch erzählt, ganz ans dem Leben gegriffen und
dabei von einem sittlichen Ernst, der uns wohlthut. Die Franzosen haben sich
durch den Einfluß ihrer liederlichen und ihrer haarsträubenden Romane schwer
an der europäischen Literatur versündigt; es wäre sehr zweckmäßig, daß sie auch
zur Heilung dieses Uebels ihrerseits etwas beitrügen. --


Der Patricierspiegel. Historische Novelle aus der neuesten Zeit. Von Jeremias
Gotthelf ^r. -- Basel, Schabelitz. -- M

Der Verfasser ist zu tadeln, daß er sich auf dem Titel an einen Namen
anlehnt, der ihm in keiner Weise zukommt. Er hat mit Jeremias Gotthelf nicht
die geringste Ähnlichkeit; er ist ihm vielmehr in politischen und religiösen An¬
sichten, ja anch in der ganzen Weise seiner Darstellung durchaus entgegengesetzt.
Es ist im übrigen ganz zweckmäßig, daß auch einmal die demokratische Partei in
der Schweiz einen belletristischen Vorfechter finde, dem eS an anschaulicher Be¬
redsamkeit gar nicht fehlt. --


Grenzboten, III. -I8SZ, i7

der geschicktesten. Er ist auch nicht ganz' ohne eigene Eigenthümlichkeit; seine
Empfindung ist wahr und im ganzen tüchtig; wir möchten aber doch wünschen,
daß man Neben den großen Vorzügen Gotthelfs, auf die wir selber immer sehr
gern aufmerksam gemacht haben, nicht anch seine Fehler nachahmen wollte. Sein
lebensvoller Humor, seine frischen Farben, die feste Hand in seiner Zeichnung,
seine kräftige, wenn auch etwas derbe Plastik, das alles sind höchst positive Eigen¬
schaften, die wol ein Talent zweiten Ranges zur Nachahmung anlocken können;
aber die Breite in feinen Erzählungen und die vollständige Formlosigkeit in seinem
Stil wie in seiner Komposition sollte man ihm nicht nachmachen, denn es sind
offenbare Fehler, die der Verbreitung seiner Schriften großen Abbruch thun.
Wenn man auch mit seinen Erfindungen einen erbaulichen Zweck verbindet, so
kann man diesen doch nnr dadurch erreichen, daß man zunächst das Gesetz der
Romandichtung im Auge behält, d. h. daß man den Leser spannt, unterhält
und fesselt. --—


Aus deck Leben eines Handwerkers. Von Emile Souvestre. Deutsch von
P. H. Sillig. — Leipzig, Costenol'le. —

Die Schriften von Sonvestre, die gegenwärtig in Frankreich einen so großen
Anklang finden, sind ein sicheres Zeichen dafür, daß die Richtung aus volkstüm¬
liche Poesie, wie sie uns in Deutschland entgegentritt, keine zufällige ist. Indem
die Franzosen sich anf dieses Genre geworfen haben, das wir als die nothwen¬
dige Reaction gegen die Zerfahrenheit, Unstetigkeit und Blasirtheit unserer gewöhn¬
lichen Romandichtung auffassen müssen, kommt ihnen dabei ihr Talent zur Erzäh¬
lung sehr zu statten, in dem sie uns noch immer bei weitem übertreffen. Die
vorliegende Geschichte ist sehr hübsch erzählt, ganz ans dem Leben gegriffen und
dabei von einem sittlichen Ernst, der uns wohlthut. Die Franzosen haben sich
durch den Einfluß ihrer liederlichen und ihrer haarsträubenden Romane schwer
an der europäischen Literatur versündigt; es wäre sehr zweckmäßig, daß sie auch
zur Heilung dieses Uebels ihrerseits etwas beitrügen. —


Der Patricierspiegel. Historische Novelle aus der neuesten Zeit. Von Jeremias
Gotthelf ^r. — Basel, Schabelitz. — M

Der Verfasser ist zu tadeln, daß er sich auf dem Titel an einen Namen
anlehnt, der ihm in keiner Weise zukommt. Er hat mit Jeremias Gotthelf nicht
die geringste Ähnlichkeit; er ist ihm vielmehr in politischen und religiösen An¬
sichten, ja anch in der ganzen Weise seiner Darstellung durchaus entgegengesetzt.
Es ist im übrigen ganz zweckmäßig, daß auch einmal die demokratische Partei in
der Schweiz einen belletristischen Vorfechter finde, dem eS an anschaulicher Be¬
redsamkeit gar nicht fehlt. —


Grenzboten, III. -I8SZ, i7
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[0375] der geschicktesten. Er ist auch nicht ganz' ohne eigene Eigenthümlichkeit; seine Empfindung ist wahr und im ganzen tüchtig; wir möchten aber doch wünschen, daß man Neben den großen Vorzügen Gotthelfs, auf die wir selber immer sehr gern aufmerksam gemacht haben, nicht anch seine Fehler nachahmen wollte. Sein lebensvoller Humor, seine frischen Farben, die feste Hand in seiner Zeichnung, seine kräftige, wenn auch etwas derbe Plastik, das alles sind höchst positive Eigen¬ schaften, die wol ein Talent zweiten Ranges zur Nachahmung anlocken können; aber die Breite in feinen Erzählungen und die vollständige Formlosigkeit in seinem Stil wie in seiner Komposition sollte man ihm nicht nachmachen, denn es sind offenbare Fehler, die der Verbreitung seiner Schriften großen Abbruch thun. Wenn man auch mit seinen Erfindungen einen erbaulichen Zweck verbindet, so kann man diesen doch nnr dadurch erreichen, daß man zunächst das Gesetz der Romandichtung im Auge behält, d. h. daß man den Leser spannt, unterhält und fesselt. --— Aus deck Leben eines Handwerkers. Von Emile Souvestre. Deutsch von P. H. Sillig. — Leipzig, Costenol'le. — Die Schriften von Sonvestre, die gegenwärtig in Frankreich einen so großen Anklang finden, sind ein sicheres Zeichen dafür, daß die Richtung aus volkstüm¬ liche Poesie, wie sie uns in Deutschland entgegentritt, keine zufällige ist. Indem die Franzosen sich anf dieses Genre geworfen haben, das wir als die nothwen¬ dige Reaction gegen die Zerfahrenheit, Unstetigkeit und Blasirtheit unserer gewöhn¬ lichen Romandichtung auffassen müssen, kommt ihnen dabei ihr Talent zur Erzäh¬ lung sehr zu statten, in dem sie uns noch immer bei weitem übertreffen. Die vorliegende Geschichte ist sehr hübsch erzählt, ganz ans dem Leben gegriffen und dabei von einem sittlichen Ernst, der uns wohlthut. Die Franzosen haben sich durch den Einfluß ihrer liederlichen und ihrer haarsträubenden Romane schwer an der europäischen Literatur versündigt; es wäre sehr zweckmäßig, daß sie auch zur Heilung dieses Uebels ihrerseits etwas beitrügen. — Der Patricierspiegel. Historische Novelle aus der neuesten Zeit. Von Jeremias Gotthelf ^r. — Basel, Schabelitz. — M Der Verfasser ist zu tadeln, daß er sich auf dem Titel an einen Namen anlehnt, der ihm in keiner Weise zukommt. Er hat mit Jeremias Gotthelf nicht die geringste Ähnlichkeit; er ist ihm vielmehr in politischen und religiösen An¬ sichten, ja anch in der ganzen Weise seiner Darstellung durchaus entgegengesetzt. Es ist im übrigen ganz zweckmäßig, daß auch einmal die demokratische Partei in der Schweiz einen belletristischen Vorfechter finde, dem eS an anschaulicher Be¬ redsamkeit gar nicht fehlt. — Grenzboten, III. -I8SZ, i7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/375>, abgerufen am 29.06.2024.