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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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' Sollte aber Rußland wirklich den Krieg wünschen können? Nehmen wir
an, Oestreich und Preußen würden sich an seine Seite stellen, ohne Berück¬
sichtigung ihrer sonstigen Interessen. Nehmen wir ferner an, es würde der Krieg
nicht in die Revolution umschlagen, sondern Italien, Polen und Ungarn würden
ruhig zusehen, wie man sich unten am schwarzen Meere die Kopfe einschlägt.
In diesem Falle frägt es sich, ob Rußland es wagen könne, den Kampf anzu¬
nehmen. Seine Flotte müßte es gradezu als verloren erachten -- im Kaukasus
müßte es offenbar eine fünfundzwanzigjährige Arbeit aufgeben, denn es ist klar,
daß die Franzosen und Engländer nichts eiligeres zu thun hätten, als die cir-
kasfischen Festungen zu schleifen und den Tscherkessen Waffen und Munition zu
geben. Was aber den Krieg Rußland fast ebenso unangenehm machen muß,
das ist der Umstand, daß es unter den gegenwärtigen Verhältnissen Frankreich,
das heißt dem Kaiser der Franzosen, in den Angen der eigenen Nation und in
den Augen Enropa's eine Stellung verschaffte, die er nach einer glücklichen und
weisen Regierung von vielen Jahren nicht erreichen könnte. Was hatte die Cou-
tinentalpolitik seit dein Kaiserreiche zu bedeuten? Was war das Ziel aller ihrer
diplomatischen Bestrebungen? Man wollte Napoleon III., dem man nicht traut,
isoliren, mau wollte ihm seine etwaigen Eroberungsgclüste vertreiben. Und da
sollten Rußland, Oestreich und Preußen es gern sehen, es zugeben können,
daß Napoleon als Kämpe einer gerechten Sache auftrete und, einmal 'das Schwert
in der Hand habend, sich damit bescheiden sollte, es wieder aus eiuen Wink der
gnädigen Herrschaften aus der Hand zu legen? Die europäischen Diplomaten,
die uuter der Hand der Legitimisten oder der Orleanislen Hoffnungen sür die
Zukunft gemacht, sollten nun muthwilligerweise eiuen Stand der Dinge herbei¬
führen,, der geeigneter wäre als alles, Napoleon die Hälfte seiner Gegner im
Lande zuzuführen? Das wird weder der Kaiser von Rußland wollen, noch kann
es Oestreich oder Preußen. Ich kann also mit dem besten Willen keine krie¬
gerische Constellation vom politischen Himmel herunteMcn und ich werde an den
Krieg nicht eher glauben, als bis die beiden Flotten die Dardanellen passirt haben.




Seit meinem letzten Briefe find die hiesigen Dinge ziemlich im Statusquo
verblieben. Indeß hat eben das dazu beigetragen, die Möglichkeit eines Kriegs
mit Rußland näher zu rücken. Die türkische Flotte hat den Ankerplatz am alten
Serail verlassen und Stellung in der Bucht von Büjük-dere, am Eingänge des
Bosporus, genommen. Im Augenblick mögen dreißig größere und kleinere Kriegs-


' Sollte aber Rußland wirklich den Krieg wünschen können? Nehmen wir
an, Oestreich und Preußen würden sich an seine Seite stellen, ohne Berück¬
sichtigung ihrer sonstigen Interessen. Nehmen wir ferner an, es würde der Krieg
nicht in die Revolution umschlagen, sondern Italien, Polen und Ungarn würden
ruhig zusehen, wie man sich unten am schwarzen Meere die Kopfe einschlägt.
In diesem Falle frägt es sich, ob Rußland es wagen könne, den Kampf anzu¬
nehmen. Seine Flotte müßte es gradezu als verloren erachten — im Kaukasus
müßte es offenbar eine fünfundzwanzigjährige Arbeit aufgeben, denn es ist klar,
daß die Franzosen und Engländer nichts eiligeres zu thun hätten, als die cir-
kasfischen Festungen zu schleifen und den Tscherkessen Waffen und Munition zu
geben. Was aber den Krieg Rußland fast ebenso unangenehm machen muß,
das ist der Umstand, daß es unter den gegenwärtigen Verhältnissen Frankreich,
das heißt dem Kaiser der Franzosen, in den Angen der eigenen Nation und in
den Augen Enropa's eine Stellung verschaffte, die er nach einer glücklichen und
weisen Regierung von vielen Jahren nicht erreichen könnte. Was hatte die Cou-
tinentalpolitik seit dein Kaiserreiche zu bedeuten? Was war das Ziel aller ihrer
diplomatischen Bestrebungen? Man wollte Napoleon III., dem man nicht traut,
isoliren, mau wollte ihm seine etwaigen Eroberungsgclüste vertreiben. Und da
sollten Rußland, Oestreich und Preußen es gern sehen, es zugeben können,
daß Napoleon als Kämpe einer gerechten Sache auftrete und, einmal 'das Schwert
in der Hand habend, sich damit bescheiden sollte, es wieder aus eiuen Wink der
gnädigen Herrschaften aus der Hand zu legen? Die europäischen Diplomaten,
die uuter der Hand der Legitimisten oder der Orleanislen Hoffnungen sür die
Zukunft gemacht, sollten nun muthwilligerweise eiuen Stand der Dinge herbei¬
führen,, der geeigneter wäre als alles, Napoleon die Hälfte seiner Gegner im
Lande zuzuführen? Das wird weder der Kaiser von Rußland wollen, noch kann
es Oestreich oder Preußen. Ich kann also mit dem besten Willen keine krie¬
gerische Constellation vom politischen Himmel herunteMcn und ich werde an den
Krieg nicht eher glauben, als bis die beiden Flotten die Dardanellen passirt haben.




Seit meinem letzten Briefe find die hiesigen Dinge ziemlich im Statusquo
verblieben. Indeß hat eben das dazu beigetragen, die Möglichkeit eines Kriegs
mit Rußland näher zu rücken. Die türkische Flotte hat den Ankerplatz am alten
Serail verlassen und Stellung in der Bucht von Büjük-dere, am Eingänge des
Bosporus, genommen. Im Augenblick mögen dreißig größere und kleinere Kriegs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/24>, abgerufen am 23.07.2024.