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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Musik.

Die Gesangskunst, physiologisch, psychologisch, ästhetisch
und pädagogisch dargestellt. Anleitung zur vollendeten Ausbildung im Gesänge?c.
Mit einer Berücksichtigung der Theorien der größten italienischen und deutschen Gcsang-
meistcr und nach eigenen Erfahrungen systematisch bearbeitet von C. G. Nehrlich;
zweite durchaus umgearbeitete und sehr vermehrte Auslage. Mit anatomischen Abbil¬
dungen. Leipzig, B. G. Teubner. 1N)!Z. -- Die erste Auslage dieses Buchs erschien
in derselben Verlagsbuchhandlung unter dem kürzern Titel "die Gesangskunst oder die
Geheimnisse der großen italienischen und deutschen Gesangmeiftcr, 18l>1." Das Werk
hat zu jener Zeit eine weite Verbreitung gefunden. Es erschien gerade in einer Epoche,
wo die Klagen über den Verfall der Gesangskunst zu entstehen ansingen, welche sich
seit jener Zeit so gemehrt und in der That zu einem Nothgeschrei sich jetzt ausgebildet
haben. In Deutschland besonders war die Sorge um den Verfall des KnnstgcsangS
größer, als in Italien und Frankreich, denn in diesen beiden Ländern hatte man, obgleich
die Mode zu componiren eine andere geworden war, doch im Wesentlichen die früher
geltenden Grundsätze für die Gcsangsmusik beibehalten. In Deutschland gestalteten
sich die Verhältnisse anders: Weber, obgleich dieser einen natürlichen Instinct für schonen
Gesang besaß, und seine Nachfolger, ließe" dem Schwunge ihrer Ideen nun sehr wenig
Fesseln von der Gesangskunst anlegen, es zeigte sich im Gegentheile sehr bald das
geflissentliche Streben, die durch lauge Zeiten gesammelten Erfahrungen vollständig zu
negiren. Die Reaction gegen diese genialen Überschreitungen blieb nicht lange aus;
sie zeigte sich zuerst, und zwar recht verständig, in der ersten Ausgabe des vorliegenden
Buchs, sodann in Wenn se ein's Gesangschulc und in dessen Geschichte der Musik, zuletzt
aber in Fr. Wink's Buche: "Clavier und Gesang". In den ersten Werken spielen die
"Geheimnisse der alten Singmeister" eine große Rolle; man kommt jedoch kaum in den
Fall, trotz des eifrigen Nachsuchens etwas Anderes zu entdecken, als einzelne Unwichtig-
leiten und einige historische Notizen, welche dem Hilfesuchenden keine ausreichenden Auf¬
klärungen geben. Nach unsrer Meinung läßt sich eine richtige Gcsangslchrc überhaupt
"icht schreiben, denn das Verbreiter und Wissen einiger Elcmentargrundsätzc hilft weder
dem Schüler, noch Lehrern, die keine Erfahrungen an sich selbst gemacht haben. Der
Gesangsunterricht in unsrer Zeit, besonders in Deutschland, wird darum hauptsächlich
schlechte Früchte tragen, weil es die Meister nicht mehr verstehen, gute Compositionen
zu schreiben, und weil durch das häufige Licdersiugc" der geistreichen Tonsetzer der
letzten Jahre die Stimmen sowol, wie das Gehör sür die Unterscheidung und
Erzeugung eines schönen Tons verdorben sind. Früher gehörte zu einer vollstän¬
digen musikalische" Erziehung ein geregelter Gesangsunterricht, wenigstens eine lange
Uebung in den Singchörcn der Kirchen, und daraus läßt sich erklären, daß die früheren
Komponisten stets den Gcsangston zu treffen wußten. Viele Umstände verhindern in
unsrer Zeit eine derartige praktische Ausbildung; die geschriebenen Untcrrichtswerke ver¬
mögen nicht vollständigen Ersatz zu gewähren. Das Material des Vorliegenden ist sehr
bedeutend und durchaus geschickt geschrieben und verständig angeordnet, auch mangeln
nicht die praktischen Andeutungen, aber dennoch reichen sie allein nicht ans, um wirklichen
Nutzen zu schaffe". Desto größere Beachtung verdienen die Theile des Buchs, welche
sich über die Physiologie, Theorie und Diätetik des Gesangs verbreiten. Hierin ist das
Material gegen früher bedeutend vermehrt worden und zwar zum großen Vortheile des
Buchs. Die rein musikalische Seite des Buchs ist die schwächere; die der Bildung des


Musik.

Die Gesangskunst, physiologisch, psychologisch, ästhetisch
und pädagogisch dargestellt. Anleitung zur vollendeten Ausbildung im Gesänge?c.
Mit einer Berücksichtigung der Theorien der größten italienischen und deutschen Gcsang-
meistcr und nach eigenen Erfahrungen systematisch bearbeitet von C. G. Nehrlich;
zweite durchaus umgearbeitete und sehr vermehrte Auslage. Mit anatomischen Abbil¬
dungen. Leipzig, B. G. Teubner. 1N)!Z. — Die erste Auslage dieses Buchs erschien
in derselben Verlagsbuchhandlung unter dem kürzern Titel „die Gesangskunst oder die
Geheimnisse der großen italienischen und deutschen Gesangmeiftcr, 18l>1." Das Werk
hat zu jener Zeit eine weite Verbreitung gefunden. Es erschien gerade in einer Epoche,
wo die Klagen über den Verfall der Gesangskunst zu entstehen ansingen, welche sich
seit jener Zeit so gemehrt und in der That zu einem Nothgeschrei sich jetzt ausgebildet
haben. In Deutschland besonders war die Sorge um den Verfall des KnnstgcsangS
größer, als in Italien und Frankreich, denn in diesen beiden Ländern hatte man, obgleich
die Mode zu componiren eine andere geworden war, doch im Wesentlichen die früher
geltenden Grundsätze für die Gcsangsmusik beibehalten. In Deutschland gestalteten
sich die Verhältnisse anders: Weber, obgleich dieser einen natürlichen Instinct für schonen
Gesang besaß, und seine Nachfolger, ließe» dem Schwunge ihrer Ideen nun sehr wenig
Fesseln von der Gesangskunst anlegen, es zeigte sich im Gegentheile sehr bald das
geflissentliche Streben, die durch lauge Zeiten gesammelten Erfahrungen vollständig zu
negiren. Die Reaction gegen diese genialen Überschreitungen blieb nicht lange aus;
sie zeigte sich zuerst, und zwar recht verständig, in der ersten Ausgabe des vorliegenden
Buchs, sodann in Wenn se ein's Gesangschulc und in dessen Geschichte der Musik, zuletzt
aber in Fr. Wink's Buche: „Clavier und Gesang". In den ersten Werken spielen die
„Geheimnisse der alten Singmeister" eine große Rolle; man kommt jedoch kaum in den
Fall, trotz des eifrigen Nachsuchens etwas Anderes zu entdecken, als einzelne Unwichtig-
leiten und einige historische Notizen, welche dem Hilfesuchenden keine ausreichenden Auf¬
klärungen geben. Nach unsrer Meinung läßt sich eine richtige Gcsangslchrc überhaupt
»icht schreiben, denn das Verbreiter und Wissen einiger Elcmentargrundsätzc hilft weder
dem Schüler, noch Lehrern, die keine Erfahrungen an sich selbst gemacht haben. Der
Gesangsunterricht in unsrer Zeit, besonders in Deutschland, wird darum hauptsächlich
schlechte Früchte tragen, weil es die Meister nicht mehr verstehen, gute Compositionen
zu schreiben, und weil durch das häufige Licdersiugc» der geistreichen Tonsetzer der
letzten Jahre die Stimmen sowol, wie das Gehör sür die Unterscheidung und
Erzeugung eines schönen Tons verdorben sind. Früher gehörte zu einer vollstän¬
digen musikalische» Erziehung ein geregelter Gesangsunterricht, wenigstens eine lange
Uebung in den Singchörcn der Kirchen, und daraus läßt sich erklären, daß die früheren
Komponisten stets den Gcsangston zu treffen wußten. Viele Umstände verhindern in
unsrer Zeit eine derartige praktische Ausbildung; die geschriebenen Untcrrichtswerke ver¬
mögen nicht vollständigen Ersatz zu gewähren. Das Material des Vorliegenden ist sehr
bedeutend und durchaus geschickt geschrieben und verständig angeordnet, auch mangeln
nicht die praktischen Andeutungen, aber dennoch reichen sie allein nicht ans, um wirklichen
Nutzen zu schaffe». Desto größere Beachtung verdienen die Theile des Buchs, welche
sich über die Physiologie, Theorie und Diätetik des Gesangs verbreiten. Hierin ist das
Material gegen früher bedeutend vermehrt worden und zwar zum großen Vortheile des
Buchs. Die rein musikalische Seite des Buchs ist die schwächere; die der Bildung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/80>, abgerufen am 26.12.2024.