Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.Wochenbericht. Literatur. -- Mirabeau ist in neuerer Zeit häufig zum Gegenstand historischer Wochenbericht. Literatur. — Mirabeau ist in neuerer Zeit häufig zum Gegenstand historischer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94529"/> </div> <div n="1"> <head> Wochenbericht.</head><lb/> <div n="2"> <head> Literatur. </head> <p xml:id="ID_210"> — Mirabeau ist in neuerer Zeit häufig zum Gegenstand historischer<lb/> Monographien gemacht; im Ganzen ging man aber immer mehr daraus aus, ein flüchtig<lb/> angelegtes, leicht übersichtliches Gemälde, als eine ernsthaft ausgeführte historische Dar¬<lb/> stellung zu geben. Es ist jetzt ein neues Werk erschienen, welches die strengste wissen¬<lb/> schaftliche Gründlichkeit mit geschmackvoller populaircr Behandlung verbindet. Es heißt:<lb/> Mirab cau. Ein Bild seines Lebens, seines Wirkens, seiner Zeit. Bon Dr. Friedrich<lb/> Lewitz. (Breslau, Ferdinand Hirt.) Der erste, sehr starke Band (600 Seiten), der<lb/> so eben erschienen ist, enthält die Jugendgeschichte Mirabeau's bis zum Jahr 1783.<lb/> Die Benutzung der Korrespondenz mit dem Grasen La Marck bleibt also dem zweiten<lb/> Band überlassen. Der einzige Tadel, den wir aussprechen möchten, ist der hin und<lb/> wieder nicht ganz abgewischte Schulstaub, der sich namentlich in den öfteren Citaten<lb/> zeigt. Allein das sind immer nur einzelne Stellen; im Ganzen ist die Darstellung<lb/> mit sehr gesundem historischen Tact und einer sehr zweckmäßigen Auswahl alles dessen,<lb/> was -für die Charakteristik des Helden wesentlich ist, ausgesiihrt. Der Verfasser hat<lb/> sich nicht damit begnügt, das vorhandene Material zusammenzustellen und zu gruppi-<lb/> ren, er hat auch bet einzelnen wichtigen Punkten eine Kritik ausgeübt, die um so er¬<lb/> sprießlicher ist, da sie sich nie in Raffinement verliert. Vortrefflich ist der Einfall, in<lb/> der Einleitung durch einen Auszug aus den Memoiren Marmontel's ein charakteristisches<lb/> Bild von dem Wesen jener Zeit zu geben, die nothwendig war, um eine dämonische<lb/> Natur, die so viele Widersprüche in sich vereinigte, hervorzubringen und begreiflich zu<lb/> machen. Da das Werk ohnehin aufs Große angelegt ist, so wäre es vielleicht nicht<lb/> unzweckmäßig gewesen, diese Einleitung durch Auszüge aus anderen ähnlichen Schriften<lb/> noch zu bereichern. — Was die geistige Auffassung des Buchs betrifft, so ist es natür¬<lb/> lich, daß eine so gewaltige Natur bei sorgfältigem und hingebenden Studium immer<lb/> neue interessante Seiten entwickelt und sich zuletzt in den Augen des Schriftstellers zu<lb/> einer Art Ideal gestaltet. Doch verliert Herr Lewitz nie seine Unbefangenheit. Mit<lb/> echt deutscher Ehrlichkeit hebt er auch diejenigen Züge hervor, die auf seinen Liebling<lb/> nicht gerade ein sehr günstiges Licht werfen. — Wir möchten dem Buch eine recht<lb/> große Verbreitung wünschen. Selten ist ein Gegenstand gleichmäßig so geeignet für<lb/> ein ernsthaftes Nachdenken und für die Phantasie zu finden. Mirabeau's Leben war ein<lb/> Roman, um diesen schlechten Ausdruck zu gebrauchen, mit dem man der Geschichte Unrecht<lb/> thut. Denn die in ihren Details angeschaute und künstlerisch gruppirte Lebensgeschichte eines<lb/> bedeutenden Mannes giebt auch dem Herzen und der Phantasie größere Nahrung, als<lb/> die frivolen Empfindungen unsrer modernen Belletristen, die einzelne Charakterzüge aus<lb/> der Anschauung des.wirklichen Lebens zu einer willkürlichen Mosaikarbeit zusammen¬<lb/> stellen. Aber selten sind nur so glücklich, in derselben Persönlichkeit zugleich eine reiche<lb/> Entwickelung des innern Lebens und eine große Stellung in >der Oeffentlichkeit mit<lb/> derselben Genauigkeit verfolgen zu können.. In dieser Beziehung ist selbst Lord Byron<lb/> nicht mit Mirabeau zu vergleichen, der sonst unter allen bedeutenden Männern der<lb/> neuern Zeit Mirabeau am nächsten steht. Byron vergeudete seine reiche Lebenskraft in<lb/> Privatverhältnissen, seine spätere Theilnahme am politischen Leben war eigentlich nur<lb/> eine Spielerei. Von Mirabeau kaun man dagegen sagen, daß er in den Verirrungen sei¬<lb/> ner Jugend seine Kräfte nur gestählt und sich sähig gemacht hat, sie zum großen Handeln<lb/> zusammenzuraffen. Die Periode des Uebergangs aus dem 18. ins -19. Jahrhundert<lb/> gehört dem Cultus der Individualitäten an, und wenn wir Napoleon und Goethe aus-<lb/> nehmen, die im größern Sinn ihr individuelles Leben gleichsam zu einem Leben der<lb/> Gattung erweiterten, so finden wir keinen andern Charakter jener Zeit, der diesem<lb/> Cultus einen angemessenen Gegenstand gäbe, als Mirabeau und Lord Byron. In die¬<lb/> sen Männern studiren wir den gesammten Charakter ihrer Periode.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0088]
Wochenbericht.
Literatur. — Mirabeau ist in neuerer Zeit häufig zum Gegenstand historischer
Monographien gemacht; im Ganzen ging man aber immer mehr daraus aus, ein flüchtig
angelegtes, leicht übersichtliches Gemälde, als eine ernsthaft ausgeführte historische Dar¬
stellung zu geben. Es ist jetzt ein neues Werk erschienen, welches die strengste wissen¬
schaftliche Gründlichkeit mit geschmackvoller populaircr Behandlung verbindet. Es heißt:
Mirab cau. Ein Bild seines Lebens, seines Wirkens, seiner Zeit. Bon Dr. Friedrich
Lewitz. (Breslau, Ferdinand Hirt.) Der erste, sehr starke Band (600 Seiten), der
so eben erschienen ist, enthält die Jugendgeschichte Mirabeau's bis zum Jahr 1783.
Die Benutzung der Korrespondenz mit dem Grasen La Marck bleibt also dem zweiten
Band überlassen. Der einzige Tadel, den wir aussprechen möchten, ist der hin und
wieder nicht ganz abgewischte Schulstaub, der sich namentlich in den öfteren Citaten
zeigt. Allein das sind immer nur einzelne Stellen; im Ganzen ist die Darstellung
mit sehr gesundem historischen Tact und einer sehr zweckmäßigen Auswahl alles dessen,
was -für die Charakteristik des Helden wesentlich ist, ausgesiihrt. Der Verfasser hat
sich nicht damit begnügt, das vorhandene Material zusammenzustellen und zu gruppi-
ren, er hat auch bet einzelnen wichtigen Punkten eine Kritik ausgeübt, die um so er¬
sprießlicher ist, da sie sich nie in Raffinement verliert. Vortrefflich ist der Einfall, in
der Einleitung durch einen Auszug aus den Memoiren Marmontel's ein charakteristisches
Bild von dem Wesen jener Zeit zu geben, die nothwendig war, um eine dämonische
Natur, die so viele Widersprüche in sich vereinigte, hervorzubringen und begreiflich zu
machen. Da das Werk ohnehin aufs Große angelegt ist, so wäre es vielleicht nicht
unzweckmäßig gewesen, diese Einleitung durch Auszüge aus anderen ähnlichen Schriften
noch zu bereichern. — Was die geistige Auffassung des Buchs betrifft, so ist es natür¬
lich, daß eine so gewaltige Natur bei sorgfältigem und hingebenden Studium immer
neue interessante Seiten entwickelt und sich zuletzt in den Augen des Schriftstellers zu
einer Art Ideal gestaltet. Doch verliert Herr Lewitz nie seine Unbefangenheit. Mit
echt deutscher Ehrlichkeit hebt er auch diejenigen Züge hervor, die auf seinen Liebling
nicht gerade ein sehr günstiges Licht werfen. — Wir möchten dem Buch eine recht
große Verbreitung wünschen. Selten ist ein Gegenstand gleichmäßig so geeignet für
ein ernsthaftes Nachdenken und für die Phantasie zu finden. Mirabeau's Leben war ein
Roman, um diesen schlechten Ausdruck zu gebrauchen, mit dem man der Geschichte Unrecht
thut. Denn die in ihren Details angeschaute und künstlerisch gruppirte Lebensgeschichte eines
bedeutenden Mannes giebt auch dem Herzen und der Phantasie größere Nahrung, als
die frivolen Empfindungen unsrer modernen Belletristen, die einzelne Charakterzüge aus
der Anschauung des.wirklichen Lebens zu einer willkürlichen Mosaikarbeit zusammen¬
stellen. Aber selten sind nur so glücklich, in derselben Persönlichkeit zugleich eine reiche
Entwickelung des innern Lebens und eine große Stellung in >der Oeffentlichkeit mit
derselben Genauigkeit verfolgen zu können.. In dieser Beziehung ist selbst Lord Byron
nicht mit Mirabeau zu vergleichen, der sonst unter allen bedeutenden Männern der
neuern Zeit Mirabeau am nächsten steht. Byron vergeudete seine reiche Lebenskraft in
Privatverhältnissen, seine spätere Theilnahme am politischen Leben war eigentlich nur
eine Spielerei. Von Mirabeau kaun man dagegen sagen, daß er in den Verirrungen sei¬
ner Jugend seine Kräfte nur gestählt und sich sähig gemacht hat, sie zum großen Handeln
zusammenzuraffen. Die Periode des Uebergangs aus dem 18. ins -19. Jahrhundert
gehört dem Cultus der Individualitäten an, und wenn wir Napoleon und Goethe aus-
nehmen, die im größern Sinn ihr individuelles Leben gleichsam zu einem Leben der
Gattung erweiterten, so finden wir keinen andern Charakter jener Zeit, der diesem
Cultus einen angemessenen Gegenstand gäbe, als Mirabeau und Lord Byron. In die¬
sen Männern studiren wir den gesammten Charakter ihrer Periode.
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