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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Am 4. Juli beginnt das II. Semester des XI. Jahrgangs der
" Grenzboten". Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich
zur Pränumeration ans dasselbe einzuladen und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen daraus annehmen.
Leipzig, den 1ö. Juni 183Z. Fr. L. Herbig. ,

Charakterbilder aus der deutschen Restaurations-
literatur.
Ludwig Uhland "ut das deutsche Lied.

Seit Gervinus wendet die deutsche Literaturgeschichte ih^e Aufmerksamkeit auf
einen früher zu sehr vernachlässigten Punkt, auf die locale Bedingtheit der Poesie.
Sie bestrebt sich, auch in deu bedeutendsten poetischen Erscheinungen die Einflüsse
pragmatisch aufzusuchen, welche die Abstammung und die heimathlichen Gewohn¬
heiten des Dichters auf seinen Charakter und auf seine literarische Richtung aus¬
geübt haben. Auch darin geht sie, wie es in solchen Fallen schwer zu vermeiden
ist, zuweilen zu weit. Ein mächtiger Geist überwindet seine irdischen Voraus¬
setzungen, oder verarbeitet sie wenigstens so in das Gewebe seines Geistes, daß
sie für seine Charakteristik keine erhebliche Bedeutung haben. Bei Schiller und
Hegel z. B. wird man ans der schwäbischen Abkunft nicht viel herleiten können.
Dagegen ist bei den Dichtern zweiten Ranges, deren Werth vorzugsweise darin
besteht, daß sie den überlieferten Stoff in eine geschickte und angemessene Form
bringen, und ihn dadurch zu einem bleibenden Nationaleigenthum idealisiren, die
Abstammung sehr wesentlich in Rechnung zu bringen, namentlich in solchen Zeiten,
wo es an einer größern Kraft fehlt, die schwächeren Geister gewaltsam nach einer
allgemeinen Richtung hin fortzureißen und sie von ihren natürlichen Bedingungen
zu lösen. In solchen Fällen hat der Localgeist einen freiern Spielraum und anch
eine größere Berechtigung, denn in ihm individnalistrt sich die Nation. So war
es in der Zeit, in welcher Uhland der beliebteste Dichter Deutschlands wurde.
Zwar war seine Richtung durch die allgemeine Richtung der Zeit bedingt, durch
jenen Uebergang vom Alterthum zu dem deutschen Mittelalter, der in der roman¬
tischen Schule seiue hauptsächliche Vermittelung fand. Aber auch nur in dieser
allgemeinen Richtung ist Uhland mit jeuer Schule verwandt. Durch sie ermuthigt,
erroberte sich der Particularismus der Stämme ein Bürgerrecht in der deutschen
Literatur, und Uhland gewann als Typus der schwäbischen Gemüthlichkeit einen
Rang in der Poesie, der sonst eigentlich nur dem freie" Schaffen zukommt.


Grcuzlwten. M, , 6

Am 4. Juli beginnt das II. Semester des XI. Jahrgangs der
„ Grenzboten". Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich
zur Pränumeration ans dasselbe einzuladen und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen daraus annehmen.
Leipzig, den 1ö. Juni 183Z. Fr. L. Herbig. ,

Charakterbilder aus der deutschen Restaurations-
literatur.
Ludwig Uhland »ut das deutsche Lied.

Seit Gervinus wendet die deutsche Literaturgeschichte ih^e Aufmerksamkeit auf
einen früher zu sehr vernachlässigten Punkt, auf die locale Bedingtheit der Poesie.
Sie bestrebt sich, auch in deu bedeutendsten poetischen Erscheinungen die Einflüsse
pragmatisch aufzusuchen, welche die Abstammung und die heimathlichen Gewohn¬
heiten des Dichters auf seinen Charakter und auf seine literarische Richtung aus¬
geübt haben. Auch darin geht sie, wie es in solchen Fallen schwer zu vermeiden
ist, zuweilen zu weit. Ein mächtiger Geist überwindet seine irdischen Voraus¬
setzungen, oder verarbeitet sie wenigstens so in das Gewebe seines Geistes, daß
sie für seine Charakteristik keine erhebliche Bedeutung haben. Bei Schiller und
Hegel z. B. wird man ans der schwäbischen Abkunft nicht viel herleiten können.
Dagegen ist bei den Dichtern zweiten Ranges, deren Werth vorzugsweise darin
besteht, daß sie den überlieferten Stoff in eine geschickte und angemessene Form
bringen, und ihn dadurch zu einem bleibenden Nationaleigenthum idealisiren, die
Abstammung sehr wesentlich in Rechnung zu bringen, namentlich in solchen Zeiten,
wo es an einer größern Kraft fehlt, die schwächeren Geister gewaltsam nach einer
allgemeinen Richtung hin fortzureißen und sie von ihren natürlichen Bedingungen
zu lösen. In solchen Fällen hat der Localgeist einen freiern Spielraum und anch
eine größere Berechtigung, denn in ihm individnalistrt sich die Nation. So war
es in der Zeit, in welcher Uhland der beliebteste Dichter Deutschlands wurde.
Zwar war seine Richtung durch die allgemeine Richtung der Zeit bedingt, durch
jenen Uebergang vom Alterthum zu dem deutschen Mittelalter, der in der roman¬
tischen Schule seiue hauptsächliche Vermittelung fand. Aber auch nur in dieser
allgemeinen Richtung ist Uhland mit jeuer Schule verwandt. Durch sie ermuthigt,
erroberte sich der Particularismus der Stämme ein Bürgerrecht in der deutschen
Literatur, und Uhland gewann als Typus der schwäbischen Gemüthlichkeit einen
Rang in der Poesie, der sonst eigentlich nur dem freie» Schaffen zukommt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/53>, abgerufen am 21.12.2024.