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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Man darf jedoch nicht glauben, daß die Straßenindustrie blos für die Er¬
nährung der Menschen sorge; auch die Thiere werden bedacht. Fleisch für Hunde
und Katzen ist ein sehr beträchtlicher Handelsartikel. Der Absatz läßt sich leicht
controliren, da alle Verkäufer dieses Artikels sich bei den circa 20 Schindereien
in London versorgen. Es werden von denselben jährlich im Durchschnitt 27,300
Pferde getödtet und ausgeschlachtet, die 73,000 Centner Fleisch sür Katzen und
Hunde hergeben. Es wird zu 2Vs Pence das Pfund verkauft, meistens an feste
Kunden auf wöchentlichen Credit. Die Zahl der Verkäufer von Fleisch für Katzen
beläuft sich auf tausend. Meistens tragen sie einen lackirten Hut, eine schwarze
Plnschärmclweste, eine blaue Schürze, Nipshoseu und mehrere Halstücher, was
bei ihnen für modisch gilt. Nur arme Anfänger haben Körbe; die übrigen haben
auf einem Karren einen Kasten stehen mit einem Brete, um das Fleisch zu schneiden,
und einer Wage. Das Fleisch wird entweder pfundweise, oder in kleineren Quan¬
titäten auf Stäbchen gesteckt und stets gekocht verkauft.




Noth an der Weise.

Man muß Lessing's Schauspiele auf der Bühne sehen, um sich einen vollstän¬
digen Begriff von der großen dramatischen Gewalt dieses Dichters zu machen. Selbst
eine schlechte Aufführung vermittelt das dramatische Verständniß mehr, als die
bloße Lecture; denn selbst aus den Caricaturen, die ungebildete Schauspieler aus
diesen lebensvollen Charakteren machen, empfindet man viel lebhafter, wie sie sich
der Dichter eigentlich gedacht hat. Noch immer erhält sich bei uns die durch die
Romantiker in Umlauf gesetzte fixe Idee, Lessing sei eigentlich kein Dichter gewesen,
höchstens ein Verstandesdichter. "Verstandesdichter" ist ein Begriff, der ungefähr
so viel Sinn hat, als "Hölzernes Eisen", wenn man nicht etwa darunter ver¬
stehen will, daß der Dichter auch Verstand hat, eine Last, an der die meisten
unsrer heutigen Dichter nicht gerade schwer zu tragen haben. Man darf im
Nathan nur irgend einen beliebigen Charakter herausgreifen, z. B. den Tempel¬
herrn, um über die Absurdität jener Behauptung in's Klare zu kommen. In dem
Tempelherrn ist anch der kleinste Zug so lebhaft und energisch empfunden, er
entspringt so unmittelbar, so lebensfrisch aus der Natur des Charakters, daß der
bloße Verstand unmöglich darauf gekommen wäre. Bei normal angelegten Charak¬
teren, in denen nur eine einzige Bestimmtheit vorherrscht, ist das schwerer nach¬
zuweisen, als bei einem irrationeller Charakter, in dem eine Fülle von Vorurtheilen
und Leidenschaften sich durchkreuzen. Einem Verstandesdichter, d. h. einem Mann,
der viel Verstand hat, aber keine Poesie, gelingt es wohl, sich einzelne ausfallende
Züge zu ersinnen und diese mit pragmatischer Vermittelung neben einander zu


Man darf jedoch nicht glauben, daß die Straßenindustrie blos für die Er¬
nährung der Menschen sorge; auch die Thiere werden bedacht. Fleisch für Hunde
und Katzen ist ein sehr beträchtlicher Handelsartikel. Der Absatz läßt sich leicht
controliren, da alle Verkäufer dieses Artikels sich bei den circa 20 Schindereien
in London versorgen. Es werden von denselben jährlich im Durchschnitt 27,300
Pferde getödtet und ausgeschlachtet, die 73,000 Centner Fleisch sür Katzen und
Hunde hergeben. Es wird zu 2Vs Pence das Pfund verkauft, meistens an feste
Kunden auf wöchentlichen Credit. Die Zahl der Verkäufer von Fleisch für Katzen
beläuft sich auf tausend. Meistens tragen sie einen lackirten Hut, eine schwarze
Plnschärmclweste, eine blaue Schürze, Nipshoseu und mehrere Halstücher, was
bei ihnen für modisch gilt. Nur arme Anfänger haben Körbe; die übrigen haben
auf einem Karren einen Kasten stehen mit einem Brete, um das Fleisch zu schneiden,
und einer Wage. Das Fleisch wird entweder pfundweise, oder in kleineren Quan¬
titäten auf Stäbchen gesteckt und stets gekocht verkauft.




Noth an der Weise.

Man muß Lessing's Schauspiele auf der Bühne sehen, um sich einen vollstän¬
digen Begriff von der großen dramatischen Gewalt dieses Dichters zu machen. Selbst
eine schlechte Aufführung vermittelt das dramatische Verständniß mehr, als die
bloße Lecture; denn selbst aus den Caricaturen, die ungebildete Schauspieler aus
diesen lebensvollen Charakteren machen, empfindet man viel lebhafter, wie sie sich
der Dichter eigentlich gedacht hat. Noch immer erhält sich bei uns die durch die
Romantiker in Umlauf gesetzte fixe Idee, Lessing sei eigentlich kein Dichter gewesen,
höchstens ein Verstandesdichter. „Verstandesdichter" ist ein Begriff, der ungefähr
so viel Sinn hat, als „Hölzernes Eisen", wenn man nicht etwa darunter ver¬
stehen will, daß der Dichter auch Verstand hat, eine Last, an der die meisten
unsrer heutigen Dichter nicht gerade schwer zu tragen haben. Man darf im
Nathan nur irgend einen beliebigen Charakter herausgreifen, z. B. den Tempel¬
herrn, um über die Absurdität jener Behauptung in's Klare zu kommen. In dem
Tempelherrn ist anch der kleinste Zug so lebhaft und energisch empfunden, er
entspringt so unmittelbar, so lebensfrisch aus der Natur des Charakters, daß der
bloße Verstand unmöglich darauf gekommen wäre. Bei normal angelegten Charak¬
teren, in denen nur eine einzige Bestimmtheit vorherrscht, ist das schwerer nach¬
zuweisen, als bei einem irrationeller Charakter, in dem eine Fülle von Vorurtheilen
und Leidenschaften sich durchkreuzen. Einem Verstandesdichter, d. h. einem Mann,
der viel Verstand hat, aber keine Poesie, gelingt es wohl, sich einzelne ausfallende
Züge zu ersinnen und diese mit pragmatischer Vermittelung neben einander zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/475>, abgerufen am 21.12.2024.