Was ist die Revolution? Offenes Sendschreiben an Herrn Geheimen Justizrath Stahl.
Auf Veranstaltung des evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke haben Sie am 8. März 18S2 einen Vortrag über die Revolution gehalten, und denselben später dem größern Publicum mitgetheilt. Die allgemeine Charakteristik, welche Sie in demselben von der liberalen Partei geben, fordert uns um so mehr zu einigen Berichtigungen auf, da Sie im Ganzen den Gegensatz zwischen der Denkart Ihrer und unsrer Partei, soweit er sich ans die Doctrinen bezieht, richtig angeben. Wir halten in der That den Staat für eine Anstalt zur Erreichung irdischer, nicht überirdischer Zwecke, -und wir erkennen keinen einzigen Punkt in demselben an, welcher sich durch seinen überirdischen Ursprung der Kritik der mensch¬ lichen Vernunft entziehen dürfte, wenn wir auch die menschliche Vernunft keines¬ wegs, wie Sie es thun, mit der menschlichen Willkür identificiren. Wir bekämpfen in Beziehung auf den Staat den Supranaturalismus noch viel entschiedener und unbedingter, als in Beziehung auf die Religion.
Allein diese Denkart, welche Sie mit dem Namen "Revolution" bezeichnen, und die man gewöhnlich Liberalismus nennt, hat bereits eine Geschichte von meh¬ reren Jahrhunderten, und im Lause dieser Geschichte haben sich die Ansichten in vieler Beziehung aufgeklärt, bereichert und erweitert. Sie thun daher Unrecht, wenn Sie Alles, was irgend ein liberaler Schriftsteller des 17., 18. oder 19. Jahr¬ hunderts ausgesprochen hat, der gesammten Partei aufbürden und uns das Recht versagen, mit der Zeit fortzuschreiten, wie ja selbst Ihre unendlich viel jüngere Partei eingeständlich mit der Zeit fortgeschritten ist.
Sie thun ferner Unrecht, wenn Sie einen offenen und aller Welt bekannten Bruch innerhalb der liberalen Partei ignoriren, und nach Belieben Eigenschaften der einen und der andern Seite zusammenschüttelt, um daraus eine Caricatur zu machen, die weder auf die eine, noch auf die andere Seite paßt. Sie begehen dieses Unrecht schon bei der Wahl Ihres Titels. Unter "Revolution" versteht der Sprachgebrauch wie der gesunde Menschenverstand einen Act oder eine Reihe
Grenzvoten. II. 18S2. 16
Was ist die Revolution? Offenes Sendschreiben an Herrn Geheimen Justizrath Stahl.
Auf Veranstaltung des evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke haben Sie am 8. März 18S2 einen Vortrag über die Revolution gehalten, und denselben später dem größern Publicum mitgetheilt. Die allgemeine Charakteristik, welche Sie in demselben von der liberalen Partei geben, fordert uns um so mehr zu einigen Berichtigungen auf, da Sie im Ganzen den Gegensatz zwischen der Denkart Ihrer und unsrer Partei, soweit er sich ans die Doctrinen bezieht, richtig angeben. Wir halten in der That den Staat für eine Anstalt zur Erreichung irdischer, nicht überirdischer Zwecke, -und wir erkennen keinen einzigen Punkt in demselben an, welcher sich durch seinen überirdischen Ursprung der Kritik der mensch¬ lichen Vernunft entziehen dürfte, wenn wir auch die menschliche Vernunft keines¬ wegs, wie Sie es thun, mit der menschlichen Willkür identificiren. Wir bekämpfen in Beziehung auf den Staat den Supranaturalismus noch viel entschiedener und unbedingter, als in Beziehung auf die Religion.
Allein diese Denkart, welche Sie mit dem Namen „Revolution" bezeichnen, und die man gewöhnlich Liberalismus nennt, hat bereits eine Geschichte von meh¬ reren Jahrhunderten, und im Lause dieser Geschichte haben sich die Ansichten in vieler Beziehung aufgeklärt, bereichert und erweitert. Sie thun daher Unrecht, wenn Sie Alles, was irgend ein liberaler Schriftsteller des 17., 18. oder 19. Jahr¬ hunderts ausgesprochen hat, der gesammten Partei aufbürden und uns das Recht versagen, mit der Zeit fortzuschreiten, wie ja selbst Ihre unendlich viel jüngere Partei eingeständlich mit der Zeit fortgeschritten ist.
Sie thun ferner Unrecht, wenn Sie einen offenen und aller Welt bekannten Bruch innerhalb der liberalen Partei ignoriren, und nach Belieben Eigenschaften der einen und der andern Seite zusammenschüttelt, um daraus eine Caricatur zu machen, die weder auf die eine, noch auf die andere Seite paßt. Sie begehen dieses Unrecht schon bei der Wahl Ihres Titels. Unter „Revolution" versteht der Sprachgebrauch wie der gesunde Menschenverstand einen Act oder eine Reihe
Grenzvoten. II. 18S2. 16
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Was ist die Revolution?
Offenes Sendschreiben an Herrn Geheimen Justizrath Stahl.
Auf Veranstaltung des evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke haben Sie
am 8. März 18S2 einen Vortrag über die Revolution gehalten, und denselben
später dem größern Publicum mitgetheilt. Die allgemeine Charakteristik, welche
Sie in demselben von der liberalen Partei geben, fordert uns um so mehr zu
einigen Berichtigungen auf, da Sie im Ganzen den Gegensatz zwischen der
Denkart Ihrer und unsrer Partei, soweit er sich ans die Doctrinen bezieht, richtig
angeben. Wir halten in der That den Staat für eine Anstalt zur Erreichung
irdischer, nicht überirdischer Zwecke, -und wir erkennen keinen einzigen Punkt in
demselben an, welcher sich durch seinen überirdischen Ursprung der Kritik der mensch¬
lichen Vernunft entziehen dürfte, wenn wir auch die menschliche Vernunft keines¬
wegs, wie Sie es thun, mit der menschlichen Willkür identificiren. Wir bekämpfen
in Beziehung auf den Staat den Supranaturalismus noch viel entschiedener und
unbedingter, als in Beziehung auf die Religion.
Allein diese Denkart, welche Sie mit dem Namen „Revolution" bezeichnen,
und die man gewöhnlich Liberalismus nennt, hat bereits eine Geschichte von meh¬
reren Jahrhunderten, und im Lause dieser Geschichte haben sich die Ansichten in
vieler Beziehung aufgeklärt, bereichert und erweitert. Sie thun daher Unrecht,
wenn Sie Alles, was irgend ein liberaler Schriftsteller des 17., 18. oder 19. Jahr¬
hunderts ausgesprochen hat, der gesammten Partei aufbürden und uns das Recht
versagen, mit der Zeit fortzuschreiten, wie ja selbst Ihre unendlich viel jüngere
Partei eingeständlich mit der Zeit fortgeschritten ist.
Sie thun ferner Unrecht, wenn Sie einen offenen und aller Welt bekannten
Bruch innerhalb der liberalen Partei ignoriren, und nach Belieben Eigenschaften
der einen und der andern Seite zusammenschüttelt, um daraus eine Caricatur
zu machen, die weder auf die eine, noch auf die andere Seite paßt. Sie begehen
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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/131>, abgerufen am 24.01.2025.
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