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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Die Zigeuner und ihre Sprache

Die Zigeuner in Europa und Asien von Dr. A. F. Pott. 1. Theil: Einleitung und
Grammatik. 2. Theil: Einleitung über Gaunersprachen. Wörterbuch und Sprach¬
proben. 1844.--45. Halle. E. Heyuemann.

In Heft 7 der Grenzboten wurden die abenteuerlichen Fahrten des Zigeuner¬
apostels Borrow und seine schriftstellerische Thätigkeit kurz skizzirt, es möge hier
Einiges über die Arbeiten eines deutschen Gelehrten folgen, welche ein interessantes
historisches Räthsel seiner Lösung nahe gebracht haben. Im nächsten Heft soll
die Besprechung einiger neuen Abhandlungen über die Zigeuner, und eine kurze
Zusammenstellung der letzten Ermittelungen den Schluß bilden.

Seit I. C. C. Rödiger im Jahr 1777 als Erster die Ansicht aussprach,
daß die Zigeunersprache mit den indischen Sprachen verwandt sei, und seit
Grellman 1783 sein bekanntes Buch über die Zigeuner herausgab, wurde das
Interesse der Gelehrtenwelt für den räthselhaften Volksstamm rege, und man er¬
kannte die Möglichkeit, aus der Sprache der Zigeuner etwas Sicheres über
ihre frühere Vergangenheit, von welcher sie selbst so gut wie Nichts wußten, zu
ermitteln. Man sammelte Wörter und Beobachtungen über dieses Volk aus den
verschiedensten Theilen der Erde: ans Persien, Syrien, Aegypten, aus fast allen
europäischen Ländern kamen Notizen nud Wörterverzeichnisse. Am fleißigsten
war man auch in diesem Zusammentragen bei uns in Deutschland: Zippel,
Bischof, Graffunder und Andere, in Böhmen Puchmayer. In Spanien beobachtete
der feurige, aber nicht immer zuverlässige Borrow, in England am besten Harriot.
Fast in jedem Land fanden die Zigeuner Berichterstatter, nur gerade aus Ungarn
und der Türkei, wo die Zigeuner noch hente am zahlreichsten und selbstständigsten
leben, fehlen gute Beobachtungen. Aber wie groß auch der äußere Umfang des
gesammelten sprachlichen Materials war, es war eine wüste Masse, an welche
Ordnung und Licht zu bringen, längere Zeit unmöglich schien. Denn trotz der
zahlreichen Sammlungen war der erworbene Wörtervorrath doch keineswegs sehr
groß, die Schreibung sehr ungenau, die Aussprache sehr unsicher. Die Sprache
der Zigeuner selbst ergab sich beim ersten Blick als verwildert, durch das elende
Leben des Volkes zerbröckelt, mit allen möglichen fremden Wörtern gemischt.
Wer in den Wust Ordnung bringen sollte, der mußte nicht nur den Sprachschatz
aller Völker, unter deuen die Zigeuner umhergeirrt siud, übersehen, um das
Fremde aus ihrer Sprache auszuscheiden, er mußte nicht nur die Sanskrit¬
stamme der Wörter erkennen, um das Alte festzustellen, sondern er mußte auch die
vorderindischen Töchtersprachen des Sanskrit, die Defiguratiou und Umbildung
der alten indischen Sprache und die zahllosen indischen Dialekte der neuern Zeit
verstehen, so weit dies der Wissenschaft überhaupt gelungen ist, und außerdem


Grenzboten, l. 4 8ö2. 52
Die Zigeuner und ihre Sprache

Die Zigeuner in Europa und Asien von Dr. A. F. Pott. 1. Theil: Einleitung und
Grammatik. 2. Theil: Einleitung über Gaunersprachen. Wörterbuch und Sprach¬
proben. 1844.—45. Halle. E. Heyuemann.

In Heft 7 der Grenzboten wurden die abenteuerlichen Fahrten des Zigeuner¬
apostels Borrow und seine schriftstellerische Thätigkeit kurz skizzirt, es möge hier
Einiges über die Arbeiten eines deutschen Gelehrten folgen, welche ein interessantes
historisches Räthsel seiner Lösung nahe gebracht haben. Im nächsten Heft soll
die Besprechung einiger neuen Abhandlungen über die Zigeuner, und eine kurze
Zusammenstellung der letzten Ermittelungen den Schluß bilden.

Seit I. C. C. Rödiger im Jahr 1777 als Erster die Ansicht aussprach,
daß die Zigeunersprache mit den indischen Sprachen verwandt sei, und seit
Grellman 1783 sein bekanntes Buch über die Zigeuner herausgab, wurde das
Interesse der Gelehrtenwelt für den räthselhaften Volksstamm rege, und man er¬
kannte die Möglichkeit, aus der Sprache der Zigeuner etwas Sicheres über
ihre frühere Vergangenheit, von welcher sie selbst so gut wie Nichts wußten, zu
ermitteln. Man sammelte Wörter und Beobachtungen über dieses Volk aus den
verschiedensten Theilen der Erde: ans Persien, Syrien, Aegypten, aus fast allen
europäischen Ländern kamen Notizen nud Wörterverzeichnisse. Am fleißigsten
war man auch in diesem Zusammentragen bei uns in Deutschland: Zippel,
Bischof, Graffunder und Andere, in Böhmen Puchmayer. In Spanien beobachtete
der feurige, aber nicht immer zuverlässige Borrow, in England am besten Harriot.
Fast in jedem Land fanden die Zigeuner Berichterstatter, nur gerade aus Ungarn
und der Türkei, wo die Zigeuner noch hente am zahlreichsten und selbstständigsten
leben, fehlen gute Beobachtungen. Aber wie groß auch der äußere Umfang des
gesammelten sprachlichen Materials war, es war eine wüste Masse, an welche
Ordnung und Licht zu bringen, längere Zeit unmöglich schien. Denn trotz der
zahlreichen Sammlungen war der erworbene Wörtervorrath doch keineswegs sehr
groß, die Schreibung sehr ungenau, die Aussprache sehr unsicher. Die Sprache
der Zigeuner selbst ergab sich beim ersten Blick als verwildert, durch das elende
Leben des Volkes zerbröckelt, mit allen möglichen fremden Wörtern gemischt.
Wer in den Wust Ordnung bringen sollte, der mußte nicht nur den Sprachschatz
aller Völker, unter deuen die Zigeuner umhergeirrt siud, übersehen, um das
Fremde aus ihrer Sprache auszuscheiden, er mußte nicht nur die Sanskrit¬
stamme der Wörter erkennen, um das Alte festzustellen, sondern er mußte auch die
vorderindischen Töchtersprachen des Sanskrit, die Defiguratiou und Umbildung
der alten indischen Sprache und die zahllosen indischen Dialekte der neuern Zeit
verstehen, so weit dies der Wissenschaft überhaupt gelungen ist, und außerdem


Grenzboten, l. 4 8ö2. 52
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[0419] Die Zigeuner und ihre Sprache Die Zigeuner in Europa und Asien von Dr. A. F. Pott. 1. Theil: Einleitung und Grammatik. 2. Theil: Einleitung über Gaunersprachen. Wörterbuch und Sprach¬ proben. 1844.—45. Halle. E. Heyuemann. In Heft 7 der Grenzboten wurden die abenteuerlichen Fahrten des Zigeuner¬ apostels Borrow und seine schriftstellerische Thätigkeit kurz skizzirt, es möge hier Einiges über die Arbeiten eines deutschen Gelehrten folgen, welche ein interessantes historisches Räthsel seiner Lösung nahe gebracht haben. Im nächsten Heft soll die Besprechung einiger neuen Abhandlungen über die Zigeuner, und eine kurze Zusammenstellung der letzten Ermittelungen den Schluß bilden. Seit I. C. C. Rödiger im Jahr 1777 als Erster die Ansicht aussprach, daß die Zigeunersprache mit den indischen Sprachen verwandt sei, und seit Grellman 1783 sein bekanntes Buch über die Zigeuner herausgab, wurde das Interesse der Gelehrtenwelt für den räthselhaften Volksstamm rege, und man er¬ kannte die Möglichkeit, aus der Sprache der Zigeuner etwas Sicheres über ihre frühere Vergangenheit, von welcher sie selbst so gut wie Nichts wußten, zu ermitteln. Man sammelte Wörter und Beobachtungen über dieses Volk aus den verschiedensten Theilen der Erde: ans Persien, Syrien, Aegypten, aus fast allen europäischen Ländern kamen Notizen nud Wörterverzeichnisse. Am fleißigsten war man auch in diesem Zusammentragen bei uns in Deutschland: Zippel, Bischof, Graffunder und Andere, in Böhmen Puchmayer. In Spanien beobachtete der feurige, aber nicht immer zuverlässige Borrow, in England am besten Harriot. Fast in jedem Land fanden die Zigeuner Berichterstatter, nur gerade aus Ungarn und der Türkei, wo die Zigeuner noch hente am zahlreichsten und selbstständigsten leben, fehlen gute Beobachtungen. Aber wie groß auch der äußere Umfang des gesammelten sprachlichen Materials war, es war eine wüste Masse, an welche Ordnung und Licht zu bringen, längere Zeit unmöglich schien. Denn trotz der zahlreichen Sammlungen war der erworbene Wörtervorrath doch keineswegs sehr groß, die Schreibung sehr ungenau, die Aussprache sehr unsicher. Die Sprache der Zigeuner selbst ergab sich beim ersten Blick als verwildert, durch das elende Leben des Volkes zerbröckelt, mit allen möglichen fremden Wörtern gemischt. Wer in den Wust Ordnung bringen sollte, der mußte nicht nur den Sprachschatz aller Völker, unter deuen die Zigeuner umhergeirrt siud, übersehen, um das Fremde aus ihrer Sprache auszuscheiden, er mußte nicht nur die Sanskrit¬ stamme der Wörter erkennen, um das Alte festzustellen, sondern er mußte auch die vorderindischen Töchtersprachen des Sanskrit, die Defiguratiou und Umbildung der alten indischen Sprache und die zahllosen indischen Dialekte der neuern Zeit verstehen, so weit dies der Wissenschaft überhaupt gelungen ist, und außerdem Grenzboten, l. 4 8ö2. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/419>, abgerufen am 05.12.2024.