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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Die deutsche Frage in den sächsischen Kammern.
Herr v. Carlowitz und die erste Kammer.



"Das Ministerium erwartet mit Sehnsucht den Augenblick, wo es sein Ver¬
fahre" in der deutschen Frage vor den Kammern rechtfertigen wird." So ohn-
gefähr ließ sich die Leipziger Zeitung, das Organ der Negierung, kurz vor dem
Beginne des Landtags vernehmen. Der Landtag trat zusammen, aber die erwartete
Vorlage blieb aus -- die Sehnsucht des Ministeriums nach Rechtfertigung seines
Verfahrens mußte also wohl so groß nicht sein. Großer schien dessen Besorgnis;
wegen der Snmmnng der Abgeordneten in Betreff der deutschen Frage. Mit
schlechtverhehlter Aengstlichkeit suchte man die Einzelnen auszuforschen, auch zu
gewinnen. Den phantasiereichen sprach man vou neuen, großartigen Einigungö-
pläncn, vou der Gewinnung Oestreichs, von dem "europäischen Mittclreich von
70 Millionen." Die ängstlichen schreckte man durch bedeutsame Winke über eine
nicht zu vermeidende Kammcrauflösung, wenn in dieser wichtigen Frage die Mehr¬
heit sich gegen das Ministerium erklären sollte. Wieder andre glaubte mau durch
Zuvorkommenheiten aller Art zu bestechen. Die lebhafteste Sorge verursachte den
Minister" die Ungewißheit: wie sich Herr v. Carlowitz in dieser Sache zu ihnen
stellen werde. Herr v. Carlowih war bis zum Jahre 1846 der gewaltigste,
einflußreichste Redner in der ersten Kammer und als Führer der Aristokratie, ab¬
wechselnd bald der gefürchtete Gegner, bald der gewichtige Bundesgenosse der
Regierung gewesen. Nach dem Landtage Von 1845 -- 4l> hatte der König ihn
in das Ministerium berufen. Zur März 1848 mußte er mit diesem abtreten; doch
folgte ihm unter allen seinen Kollegen der geringste Haß und die größte Achtung
von Seiten der öffentlichen Meinung; sein offener, fester Charakter, seine zwar
aristokratischen, aber die kleinlichen bureaukratischen Maßstäbe seiner Kollegen weit
überragenden Ansichten nöthigten auch dem politischen Gegner Anerkennung ab,
und sein Benehmen bei der Krisis des März, dem man theilweise die unblutige
Lösung zuschrieb, sicherte ihm einen Anspruch auf die Dankbarkeit des Volkes, der,
wenn auch damals vou der hochgehenden Bewegung überflutet, doch bei wieder


Grcnzvotc" II. I8S0. 1
Die deutsche Frage in den sächsischen Kammern.
Herr v. Carlowitz und die erste Kammer.



„Das Ministerium erwartet mit Sehnsucht den Augenblick, wo es sein Ver¬
fahre" in der deutschen Frage vor den Kammern rechtfertigen wird." So ohn-
gefähr ließ sich die Leipziger Zeitung, das Organ der Negierung, kurz vor dem
Beginne des Landtags vernehmen. Der Landtag trat zusammen, aber die erwartete
Vorlage blieb aus — die Sehnsucht des Ministeriums nach Rechtfertigung seines
Verfahrens mußte also wohl so groß nicht sein. Großer schien dessen Besorgnis;
wegen der Snmmnng der Abgeordneten in Betreff der deutschen Frage. Mit
schlechtverhehlter Aengstlichkeit suchte man die Einzelnen auszuforschen, auch zu
gewinnen. Den phantasiereichen sprach man vou neuen, großartigen Einigungö-
pläncn, vou der Gewinnung Oestreichs, von dem „europäischen Mittclreich von
70 Millionen." Die ängstlichen schreckte man durch bedeutsame Winke über eine
nicht zu vermeidende Kammcrauflösung, wenn in dieser wichtigen Frage die Mehr¬
heit sich gegen das Ministerium erklären sollte. Wieder andre glaubte mau durch
Zuvorkommenheiten aller Art zu bestechen. Die lebhafteste Sorge verursachte den
Minister» die Ungewißheit: wie sich Herr v. Carlowitz in dieser Sache zu ihnen
stellen werde. Herr v. Carlowih war bis zum Jahre 1846 der gewaltigste,
einflußreichste Redner in der ersten Kammer und als Führer der Aristokratie, ab¬
wechselnd bald der gefürchtete Gegner, bald der gewichtige Bundesgenosse der
Regierung gewesen. Nach dem Landtage Von 1845 — 4l> hatte der König ihn
in das Ministerium berufen. Zur März 1848 mußte er mit diesem abtreten; doch
folgte ihm unter allen seinen Kollegen der geringste Haß und die größte Achtung
von Seiten der öffentlichen Meinung; sein offener, fester Charakter, seine zwar
aristokratischen, aber die kleinlichen bureaukratischen Maßstäbe seiner Kollegen weit
überragenden Ansichten nöthigten auch dem politischen Gegner Anerkennung ab,
und sein Benehmen bei der Krisis des März, dem man theilweise die unblutige
Lösung zuschrieb, sicherte ihm einen Anspruch auf die Dankbarkeit des Volkes, der,
wenn auch damals vou der hochgehenden Bewegung überflutet, doch bei wieder


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[0009] Die deutsche Frage in den sächsischen Kammern. Herr v. Carlowitz und die erste Kammer. „Das Ministerium erwartet mit Sehnsucht den Augenblick, wo es sein Ver¬ fahre" in der deutschen Frage vor den Kammern rechtfertigen wird." So ohn- gefähr ließ sich die Leipziger Zeitung, das Organ der Negierung, kurz vor dem Beginne des Landtags vernehmen. Der Landtag trat zusammen, aber die erwartete Vorlage blieb aus — die Sehnsucht des Ministeriums nach Rechtfertigung seines Verfahrens mußte also wohl so groß nicht sein. Großer schien dessen Besorgnis; wegen der Snmmnng der Abgeordneten in Betreff der deutschen Frage. Mit schlechtverhehlter Aengstlichkeit suchte man die Einzelnen auszuforschen, auch zu gewinnen. Den phantasiereichen sprach man vou neuen, großartigen Einigungö- pläncn, vou der Gewinnung Oestreichs, von dem „europäischen Mittclreich von 70 Millionen." Die ängstlichen schreckte man durch bedeutsame Winke über eine nicht zu vermeidende Kammcrauflösung, wenn in dieser wichtigen Frage die Mehr¬ heit sich gegen das Ministerium erklären sollte. Wieder andre glaubte mau durch Zuvorkommenheiten aller Art zu bestechen. Die lebhafteste Sorge verursachte den Minister» die Ungewißheit: wie sich Herr v. Carlowitz in dieser Sache zu ihnen stellen werde. Herr v. Carlowih war bis zum Jahre 1846 der gewaltigste, einflußreichste Redner in der ersten Kammer und als Führer der Aristokratie, ab¬ wechselnd bald der gefürchtete Gegner, bald der gewichtige Bundesgenosse der Regierung gewesen. Nach dem Landtage Von 1845 — 4l> hatte der König ihn in das Ministerium berufen. Zur März 1848 mußte er mit diesem abtreten; doch folgte ihm unter allen seinen Kollegen der geringste Haß und die größte Achtung von Seiten der öffentlichen Meinung; sein offener, fester Charakter, seine zwar aristokratischen, aber die kleinlichen bureaukratischen Maßstäbe seiner Kollegen weit überragenden Ansichten nöthigten auch dem politischen Gegner Anerkennung ab, und sein Benehmen bei der Krisis des März, dem man theilweise die unblutige Lösung zuschrieb, sicherte ihm einen Anspruch auf die Dankbarkeit des Volkes, der, wenn auch damals vou der hochgehenden Bewegung überflutet, doch bei wieder Grcnzvotc» II. I8S0. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/9>, abgerufen am 29.06.2024.