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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Eigenthümlichkeit als solche) zum Zweck der Kunst zu machen. Die Aufgabe der
Kunst ist die Harmonie, und nnr derjenige Dichter hat das Recht, die Dissonanz
zu benutzen, der die Kraft besitzt, sie künstlerisch zu lösen. Wenn z. B. Sha¬
kespeare, indem er die Eifersucht Othello's schildert, einzelne Wendungen gebraucht,
die sonst Gelächter erregen würden und die dennoch in dem gewaltigen
Strom der Leidenschaft nur dazu dienen, das Entsetzen noch zu steigern, so ist
das kein Grund, daß schwache Dichter, aus deren Seele ein so unwiderstehlicher
Quell nicht hervorgeht, sich ähnliche Freiheit erlauben, denn sie bleiben im Lächer¬
lichen stecken.

Das zweite Unrecht der Romantik besteht in ihrem Materialismus. Freilich
gibt es in der bloßen Natur -- die Natur als ein Ganzes betrachtet -- nichts
Häßliches. Die Krankheit des Krebs, der Kretinismus, die Pest u. s. w. werden
in jedem Fall ans nothwendigen Ursachen herstammen und daher ihre Berechtigung
haben. Aber auf dem Standpunkt der Natur gibt es auch nichts Schönes; die
Schönheit wie die Häßlichkeit ist nur für den menschlichen Geist. Jene Krank¬
heiten finden ihre Ergänzung nicht in der Kunst, sondern in der Pathologie, das
bloße Fleisch, die Materie, die lediglich dem Galvanismus "ud dem chemischen
Einfluß gehorcht, überhaupt was nicht aus dem Geist entspringt, hat in
der Kunst kein Bürgerrecht.




Ich habe Victor Hugo bis jetzt lediglich als Träger eines Princips aufgefaßt;
ich gehe jetzt auf seine persönliche Stellung über.


Der junge Royalist.

Victor Hugo wurde geboren am 2V. Februar 1802. Sein Vater, Sigis-
mund Hugo (geb. 1774, 1' 1828), 180!Z zum Oberst ernannt, war einer der
ersten, die während der Republik freiwillig in deu Kriegsdienst traten(17i)1). Seine
Mutter, die Tochter eines Schiffsrhedcrs von Nantes, eine Vendu-erim von Ab-
stammung und Gesinnung, war in einem Alter von 1!> Jahren mit den royalisti-
schen Insurgenten im Lande umhergezogen. Victor, gleichsam im Bivouak geboren,
folgte den Riesenschritten Napoleons wie ein echtes Soldatenkind von einem Punkte
Europa's zum andern. In einem Alter von 5 Jahren war er von BesamM
nach Elba, von Elba nach Paris, von Paris nach Rom gekommen, endlich in
Neapel geblieben (1807), wo sein Varer als Gouverneur der Provinz Avellino,
die royalistischen Banden des Fra Diavolo in den Gebirgen von Calabrien ver-



Z. B,: Othello. Mir Hörner aufzusetzen! Mit meinem Lieutnant! Jago. Das
ist noch viel schlimmer. U. s. w.

Eigenthümlichkeit als solche) zum Zweck der Kunst zu machen. Die Aufgabe der
Kunst ist die Harmonie, und nnr derjenige Dichter hat das Recht, die Dissonanz
zu benutzen, der die Kraft besitzt, sie künstlerisch zu lösen. Wenn z. B. Sha¬
kespeare, indem er die Eifersucht Othello's schildert, einzelne Wendungen gebraucht,
die sonst Gelächter erregen würden und die dennoch in dem gewaltigen
Strom der Leidenschaft nur dazu dienen, das Entsetzen noch zu steigern, so ist
das kein Grund, daß schwache Dichter, aus deren Seele ein so unwiderstehlicher
Quell nicht hervorgeht, sich ähnliche Freiheit erlauben, denn sie bleiben im Lächer¬
lichen stecken.

Das zweite Unrecht der Romantik besteht in ihrem Materialismus. Freilich
gibt es in der bloßen Natur — die Natur als ein Ganzes betrachtet — nichts
Häßliches. Die Krankheit des Krebs, der Kretinismus, die Pest u. s. w. werden
in jedem Fall ans nothwendigen Ursachen herstammen und daher ihre Berechtigung
haben. Aber auf dem Standpunkt der Natur gibt es auch nichts Schönes; die
Schönheit wie die Häßlichkeit ist nur für den menschlichen Geist. Jene Krank¬
heiten finden ihre Ergänzung nicht in der Kunst, sondern in der Pathologie, das
bloße Fleisch, die Materie, die lediglich dem Galvanismus »ud dem chemischen
Einfluß gehorcht, überhaupt was nicht aus dem Geist entspringt, hat in
der Kunst kein Bürgerrecht.




Ich habe Victor Hugo bis jetzt lediglich als Träger eines Princips aufgefaßt;
ich gehe jetzt auf seine persönliche Stellung über.


Der junge Royalist.

Victor Hugo wurde geboren am 2V. Februar 1802. Sein Vater, Sigis-
mund Hugo (geb. 1774, 1' 1828), 180!Z zum Oberst ernannt, war einer der
ersten, die während der Republik freiwillig in deu Kriegsdienst traten(17i)1). Seine
Mutter, die Tochter eines Schiffsrhedcrs von Nantes, eine Vendu-erim von Ab-
stammung und Gesinnung, war in einem Alter von 1!> Jahren mit den royalisti-
schen Insurgenten im Lande umhergezogen. Victor, gleichsam im Bivouak geboren,
folgte den Riesenschritten Napoleons wie ein echtes Soldatenkind von einem Punkte
Europa's zum andern. In einem Alter von 5 Jahren war er von BesamM
nach Elba, von Elba nach Paris, von Paris nach Rom gekommen, endlich in
Neapel geblieben (1807), wo sein Varer als Gouverneur der Provinz Avellino,
die royalistischen Banden des Fra Diavolo in den Gebirgen von Calabrien ver-



Z. B,: Othello. Mir Hörner aufzusetzen! Mit meinem Lieutnant! Jago. Das
ist noch viel schlimmer. U. s. w.
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[0413] Eigenthümlichkeit als solche) zum Zweck der Kunst zu machen. Die Aufgabe der Kunst ist die Harmonie, und nnr derjenige Dichter hat das Recht, die Dissonanz zu benutzen, der die Kraft besitzt, sie künstlerisch zu lösen. Wenn z. B. Sha¬ kespeare, indem er die Eifersucht Othello's schildert, einzelne Wendungen gebraucht, die sonst Gelächter erregen würden und die dennoch in dem gewaltigen Strom der Leidenschaft nur dazu dienen, das Entsetzen noch zu steigern, so ist das kein Grund, daß schwache Dichter, aus deren Seele ein so unwiderstehlicher Quell nicht hervorgeht, sich ähnliche Freiheit erlauben, denn sie bleiben im Lächer¬ lichen stecken. Das zweite Unrecht der Romantik besteht in ihrem Materialismus. Freilich gibt es in der bloßen Natur — die Natur als ein Ganzes betrachtet — nichts Häßliches. Die Krankheit des Krebs, der Kretinismus, die Pest u. s. w. werden in jedem Fall ans nothwendigen Ursachen herstammen und daher ihre Berechtigung haben. Aber auf dem Standpunkt der Natur gibt es auch nichts Schönes; die Schönheit wie die Häßlichkeit ist nur für den menschlichen Geist. Jene Krank¬ heiten finden ihre Ergänzung nicht in der Kunst, sondern in der Pathologie, das bloße Fleisch, die Materie, die lediglich dem Galvanismus »ud dem chemischen Einfluß gehorcht, überhaupt was nicht aus dem Geist entspringt, hat in der Kunst kein Bürgerrecht. Ich habe Victor Hugo bis jetzt lediglich als Träger eines Princips aufgefaßt; ich gehe jetzt auf seine persönliche Stellung über. Der junge Royalist. Victor Hugo wurde geboren am 2V. Februar 1802. Sein Vater, Sigis- mund Hugo (geb. 1774, 1' 1828), 180!Z zum Oberst ernannt, war einer der ersten, die während der Republik freiwillig in deu Kriegsdienst traten(17i)1). Seine Mutter, die Tochter eines Schiffsrhedcrs von Nantes, eine Vendu-erim von Ab- stammung und Gesinnung, war in einem Alter von 1!> Jahren mit den royalisti- schen Insurgenten im Lande umhergezogen. Victor, gleichsam im Bivouak geboren, folgte den Riesenschritten Napoleons wie ein echtes Soldatenkind von einem Punkte Europa's zum andern. In einem Alter von 5 Jahren war er von BesamM nach Elba, von Elba nach Paris, von Paris nach Rom gekommen, endlich in Neapel geblieben (1807), wo sein Varer als Gouverneur der Provinz Avellino, die royalistischen Banden des Fra Diavolo in den Gebirgen von Calabrien ver- Z. B,: Othello. Mir Hörner aufzusetzen! Mit meinem Lieutnant! Jago. Das ist noch viel schlimmer. U. s. w.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/413>, abgerufen am 15.01.2025.