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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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bedingten, aber nicht zufälligen, sondern geschichtlich berechtigten sittlichen Contrast
zu überwinden. Es liegt ans der Hand, daß eine derartige Aufgabe leicht Ten¬
denz bleibt, aber auch als solche ist sie, z. B. bei unserer jungdeutschen Schule,
anzuerkennen. Auch Moliizre's Misanthrop, Lessing's Freigeist und Tellheim sind
über den Versuch nicht hinausgekommen; eben so wenig Beaumarchais, der aber
in seiner Trilogie über den modernen Ehestand für den Lustspieldichter ein nicht
zu umgehendes Vorbild aufgestellt hat. Das neueste französische Theater (ich er¬
innere an Scribe's I^no ninno) hat es, Dank der Frivolität seiner Dichter! erreicht,
für die Darstellung sozialer Probleme eine Art classischer Form zu finden, die wir
Dentschen um so besser kritisch zu würdigen verstehen, je fremdartiger, ja in ge¬
wisser Beziehung unheimlicher uns die Lösung jener Conflicte vorkommen muß.
Es versteht sich von selbst, daß die letzte Gattung den Hauptgegenstand meiner
Kritik bilden wird.

Um noch einmal auf deu Inhalt meiner Aufgabe zurückzukommen: sie besteht
darin, die Resultate sittlicher Probleme, wie sie sich in den Charaktermasken der
modernen Poesie plastisch gestaltet haben, kritisch zu analystren, sie in ihrer ge¬
schichtlichen Basis zu verfolgen, und so aus dem Spiel deu Ernst des dahinter
verborgenen ethischen Conflicts zu entwickeln. -- Das Nähere kann sich erst in
der einzelnen Ausführung ergeben.

1. Der Blasirte.

Erste Scene. Ein noch junger Cavalier, in reichster spanischer Tracht, sitzt
an einer wohlbesetzten Tafel. Schwarzes Haar, blasses Gesicht, wie es die Wei¬
ber lieben, und jenen Vampyrblick, dem kein Weib widerstehen kann, weil man
tief hinabschant, ohne einen Boden zu finden. Die Züge etwas schlaff und ab¬
gespannt, aber voll Geist, um den seinen Mund schwebt beständig ein spöttisches
Lächeln. Ein behender Bediente mit spitzbübischer Physiognomie ist um ihn be¬
schäftigt, ein Trupp Musikanten spielt eine Manuel aus Figaro, tausend Kerzen
verbreiten ein wunderbares Licht, fremdartige Blumen winden sich um die gothi¬
schen Fenster, ein paar anmuthige Phrhuen -- das darf nicht fehlen -- bringe"
in das sonst beleidigende Stilleben des lucullischen Mahles die Beweglichkeit, die
ihm allein seinen cynischen Charakter nehmen kann. Der Cavalier spielt mit dem
Degen, der sich in manchem Duell mit Blut gefärbt, und überblickt behaglich ein
Register, in welchem die Portraits aller seiner "Opfer" gesammelt sind, der blon¬
den, braunen u. s. w., die er verführt und dann im Stich gelassen. Das Regi¬
ster nimmt die ganze Wand ein, der Portraits sind I--4000. Ein Hause Bauer",
denen er ihre Liebsten abspenstig gemacht, hat ihn erschlagen wollen, er ist ent¬
kommen, hat im Uebermuth noch die Statue, die als Denkmal eines von UM
Getödteten ausgerichtet war, zu Tisch eingeladen, und will nun ruhig esse". ^
wird gestört. Zuerst eine verlassene Geliebte, die seine Kniee umfaßt und ih"


bedingten, aber nicht zufälligen, sondern geschichtlich berechtigten sittlichen Contrast
zu überwinden. Es liegt ans der Hand, daß eine derartige Aufgabe leicht Ten¬
denz bleibt, aber auch als solche ist sie, z. B. bei unserer jungdeutschen Schule,
anzuerkennen. Auch Moliizre's Misanthrop, Lessing's Freigeist und Tellheim sind
über den Versuch nicht hinausgekommen; eben so wenig Beaumarchais, der aber
in seiner Trilogie über den modernen Ehestand für den Lustspieldichter ein nicht
zu umgehendes Vorbild aufgestellt hat. Das neueste französische Theater (ich er¬
innere an Scribe's I^no ninno) hat es, Dank der Frivolität seiner Dichter! erreicht,
für die Darstellung sozialer Probleme eine Art classischer Form zu finden, die wir
Dentschen um so besser kritisch zu würdigen verstehen, je fremdartiger, ja in ge¬
wisser Beziehung unheimlicher uns die Lösung jener Conflicte vorkommen muß.
Es versteht sich von selbst, daß die letzte Gattung den Hauptgegenstand meiner
Kritik bilden wird.

Um noch einmal auf deu Inhalt meiner Aufgabe zurückzukommen: sie besteht
darin, die Resultate sittlicher Probleme, wie sie sich in den Charaktermasken der
modernen Poesie plastisch gestaltet haben, kritisch zu analystren, sie in ihrer ge¬
schichtlichen Basis zu verfolgen, und so aus dem Spiel deu Ernst des dahinter
verborgenen ethischen Conflicts zu entwickeln. — Das Nähere kann sich erst in
der einzelnen Ausführung ergeben.

1. Der Blasirte.

Erste Scene. Ein noch junger Cavalier, in reichster spanischer Tracht, sitzt
an einer wohlbesetzten Tafel. Schwarzes Haar, blasses Gesicht, wie es die Wei¬
ber lieben, und jenen Vampyrblick, dem kein Weib widerstehen kann, weil man
tief hinabschant, ohne einen Boden zu finden. Die Züge etwas schlaff und ab¬
gespannt, aber voll Geist, um den seinen Mund schwebt beständig ein spöttisches
Lächeln. Ein behender Bediente mit spitzbübischer Physiognomie ist um ihn be¬
schäftigt, ein Trupp Musikanten spielt eine Manuel aus Figaro, tausend Kerzen
verbreiten ein wunderbares Licht, fremdartige Blumen winden sich um die gothi¬
schen Fenster, ein paar anmuthige Phrhuen — das darf nicht fehlen — bringe»
in das sonst beleidigende Stilleben des lucullischen Mahles die Beweglichkeit, die
ihm allein seinen cynischen Charakter nehmen kann. Der Cavalier spielt mit dem
Degen, der sich in manchem Duell mit Blut gefärbt, und überblickt behaglich ein
Register, in welchem die Portraits aller seiner „Opfer" gesammelt sind, der blon¬
den, braunen u. s. w., die er verführt und dann im Stich gelassen. Das Regi¬
ster nimmt die ganze Wand ein, der Portraits sind I—4000. Ein Hause Bauer»,
denen er ihre Liebsten abspenstig gemacht, hat ihn erschlagen wollen, er ist ent¬
kommen, hat im Uebermuth noch die Statue, die als Denkmal eines von UM
Getödteten ausgerichtet war, zu Tisch eingeladen, und will nun ruhig esse«. ^
wird gestört. Zuerst eine verlassene Geliebte, die seine Kniee umfaßt und ih»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/250>, abgerufen am 15.01.2025.