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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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ludion und nur eine einzige, die sich selbst noch höher Schoten, als die erbliche
Monarchie, und diese Institution war die Kirche von England. Ihre Liebe zur
Kirche war allerdings nicht die Wirkung von Studien oder Nachdenken. Wenige
unter ihnen hätten irgend einen, aus der Schrift, oder der Kirchengeschichte ge¬
schöpften Grund angeben können, warum sie ihren Lehrsätzen, ihrem Ritual und
ihrer Verfassung anhingen; anch waren sie, als Stand genommen, keineswegs
strenge Befolger jenes Codex der Sittlichkeit, welcher allen christlichen Secten ge¬
mein ist. Aber die Erfahrung vieler Jahrhunderte beweist, daß Menschen bereit
sein können, für eine Religion bis zum Tode zu kämpfen und mitleidslos zu ver¬
folgen, deren Glauben sie nicht verstehen und deren Vorschriften sie gewohnheits¬
mäßig unbefolgt lassen")."




Briefe ans -Oestreich.
Von einem deutschen Reisenden.



Nirgendwo machte sich vor der Sündfluth, (1848) die Verachtung "papierener"
Constitutionen breiter als in Oestreich, und die Enlenaugcn des "Östreichischen
Beobachters" sahen Vieles für papieren an, was so natürlich gewachsen war wie
das Blatt am Baume. Die Nemesis hat gewollt, daß Metternichs Nachfolger selbst
in die krasseste Papiermachcrei verfallen mußten. Ihr Octroi vom 7. März ent¬
spricht so wenig der Natur und den geschichtlichen Erinnerungen der Völker, daß
hochkundige Engländer^) einstimmig das Cabinet Stadion als revolutionär-auto-
kratisch und ideologisch, die Opposition in Ungarn, Polen und Böhmen dagegen
als conservativ-liberal bezeichnen. Die Minister scheinen jetzt ihrer Unfehlbarkeit
nicht mehr ganz sicher, und der Orkan im Osten ist ein willkommener Vorwand,
um das Oktroi vom 7. März gar nicht zu Ende zu schreiben. Die wichtigsten
Ergänzungen der sogenannten östreichischen Verfassung, z. B. die organischen Ge¬
setze über Reichsgericht und Heerwesen, lassen noch immer auf sich warten. Frei¬
lich erwartet sie Niemand mehr. Allem Anscheine nach wird das Fabrikat, --
möge die Conflagration welch ein Ende immer nehmen, -- in den Papierkorb der
Geschichte fallen.




*) Meine Darstellung von dem Landgentleman des 17. Jahrhunderts ist aus zu zahlreichen
D." eilen geschöpft, als daß sie aufgeführt werden könnten. Ich muß meine Schilderung demUrtheile Derer anheimgeben, welche die Geschichte und die leichtere Literatur jenes Zeitalters
studirt haben.
**) Siehe Globe, Daily News, Examincr, spectator -c.

ludion und nur eine einzige, die sich selbst noch höher Schoten, als die erbliche
Monarchie, und diese Institution war die Kirche von England. Ihre Liebe zur
Kirche war allerdings nicht die Wirkung von Studien oder Nachdenken. Wenige
unter ihnen hätten irgend einen, aus der Schrift, oder der Kirchengeschichte ge¬
schöpften Grund angeben können, warum sie ihren Lehrsätzen, ihrem Ritual und
ihrer Verfassung anhingen; anch waren sie, als Stand genommen, keineswegs
strenge Befolger jenes Codex der Sittlichkeit, welcher allen christlichen Secten ge¬
mein ist. Aber die Erfahrung vieler Jahrhunderte beweist, daß Menschen bereit
sein können, für eine Religion bis zum Tode zu kämpfen und mitleidslos zu ver¬
folgen, deren Glauben sie nicht verstehen und deren Vorschriften sie gewohnheits¬
mäßig unbefolgt lassen")."




Briefe ans -Oestreich.
Von einem deutschen Reisenden.



Nirgendwo machte sich vor der Sündfluth, (1848) die Verachtung „papierener"
Constitutionen breiter als in Oestreich, und die Enlenaugcn des „Östreichischen
Beobachters" sahen Vieles für papieren an, was so natürlich gewachsen war wie
das Blatt am Baume. Die Nemesis hat gewollt, daß Metternichs Nachfolger selbst
in die krasseste Papiermachcrei verfallen mußten. Ihr Octroi vom 7. März ent¬
spricht so wenig der Natur und den geschichtlichen Erinnerungen der Völker, daß
hochkundige Engländer^) einstimmig das Cabinet Stadion als revolutionär-auto-
kratisch und ideologisch, die Opposition in Ungarn, Polen und Böhmen dagegen
als conservativ-liberal bezeichnen. Die Minister scheinen jetzt ihrer Unfehlbarkeit
nicht mehr ganz sicher, und der Orkan im Osten ist ein willkommener Vorwand,
um das Oktroi vom 7. März gar nicht zu Ende zu schreiben. Die wichtigsten
Ergänzungen der sogenannten östreichischen Verfassung, z. B. die organischen Ge¬
setze über Reichsgericht und Heerwesen, lassen noch immer auf sich warten. Frei¬
lich erwartet sie Niemand mehr. Allem Anscheine nach wird das Fabrikat, —
möge die Conflagration welch ein Ende immer nehmen, — in den Papierkorb der
Geschichte fallen.




*) Meine Darstellung von dem Landgentleman des 17. Jahrhunderts ist aus zu zahlreichen
D.» eilen geschöpft, als daß sie aufgeführt werden könnten. Ich muß meine Schilderung demUrtheile Derer anheimgeben, welche die Geschichte und die leichtere Literatur jenes Zeitalters
studirt haben.
**) Siehe Globe, Daily News, Examincr, spectator -c.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/341>, abgerufen am 15.01.2025.