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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Offene Briefe



IV.
An I g n a z Ruranda in Wien.

Lieber Freund!

Wie kommt es Ihnen vor, daß die Grenzboten einen offnen Brief an Sie
erlassen? Ich hatte mir diesen Witz schon lange ausgedacht, fand aber keine pas¬
sende Gelegenheit dazu. Die erste Nummer Ihrer "Ostdeutschen Post" bietet mir
diese Gelegenheit. Meine Erwartung, Ihre Zeitung werde nicht nur in der öst¬
reichischen Presse einen höchst ehrenwerthen Rang einnehmen, sondern auch vor¬
zugsweise dazu geeignet sein, die politische Bildung Ihres Vaterlandes dem Reich
gegenüber zu vertreten, wird schon durch diese erste Nummer bestätigt. Um so
angemessener scheint es mir, das Verhältniß unserer Ansichten, soweit sie Oestreich
betreffen, sogleich scharf herauszustellen.

In dem ziemlich ausführlichen Programm, das Sie mit den Worten einleiten:
"Wir geben kein Programm", heißt es am Schluß: "Die Freiheit und die Na¬
tionalität!" Für uns sind beide Worte synonym, die deutsche Nationalität ist
die Trägerin der Freiheit in Oestreich; nicht blos für uns Deutsche, auch für un¬
sere nichtdeutschen Staatsgenossen ist sie die sicherste Garantie gegen die Rückfälle
des Absolutismus. Nur in den^abgeschlossenen Oestreich war die Metternich'sche
Tyrannei ausführbar. Im Verbände mit der gebildetesten Nation Europas, im
innigsten Verbände mit 40 Millionen freien deutscheu Männern ist keine ernste
Reaktion auf die Länge möglich. Wir sagen im innigsten Verbände; wir schonen
die Empfindlichkeit unserer nichtdeutschen Staatsgenossen und sagen nicht: im voll¬
ständigen "Aufgehen." Im Mai und Juni, wo der alte Kaiserstaat zusammen zu
stürzen schien, da mußten die Atome zu ihrem Ursprünge zurückkehren. Italien
und Ungarn losgerissen vom Gesammtkörper, Galizien mit Selbstständigkeitsideen
beschäftigt -- was sollte das reduzirte Oestreich mit seinen deutschen Provinzen
anders, als in dem gesammten Mutterland aufgehen? Was konnten wir Deutsch¬
land zu seiner Erkräftigung und Neugestaltung weniger bieten, als uns selbst, uns
ganz und gar? Wider alles Erwarten hat der künstlich zusammen gezimmerte


Krenzhot"". IV. 1848. g
Offene Briefe



IV.
An I g n a z Ruranda in Wien.

Lieber Freund!

Wie kommt es Ihnen vor, daß die Grenzboten einen offnen Brief an Sie
erlassen? Ich hatte mir diesen Witz schon lange ausgedacht, fand aber keine pas¬
sende Gelegenheit dazu. Die erste Nummer Ihrer „Ostdeutschen Post" bietet mir
diese Gelegenheit. Meine Erwartung, Ihre Zeitung werde nicht nur in der öst¬
reichischen Presse einen höchst ehrenwerthen Rang einnehmen, sondern auch vor¬
zugsweise dazu geeignet sein, die politische Bildung Ihres Vaterlandes dem Reich
gegenüber zu vertreten, wird schon durch diese erste Nummer bestätigt. Um so
angemessener scheint es mir, das Verhältniß unserer Ansichten, soweit sie Oestreich
betreffen, sogleich scharf herauszustellen.

In dem ziemlich ausführlichen Programm, das Sie mit den Worten einleiten:
„Wir geben kein Programm", heißt es am Schluß: „Die Freiheit und die Na¬
tionalität!" Für uns sind beide Worte synonym, die deutsche Nationalität ist
die Trägerin der Freiheit in Oestreich; nicht blos für uns Deutsche, auch für un¬
sere nichtdeutschen Staatsgenossen ist sie die sicherste Garantie gegen die Rückfälle
des Absolutismus. Nur in den^abgeschlossenen Oestreich war die Metternich'sche
Tyrannei ausführbar. Im Verbände mit der gebildetesten Nation Europas, im
innigsten Verbände mit 40 Millionen freien deutscheu Männern ist keine ernste
Reaktion auf die Länge möglich. Wir sagen im innigsten Verbände; wir schonen
die Empfindlichkeit unserer nichtdeutschen Staatsgenossen und sagen nicht: im voll¬
ständigen „Aufgehen." Im Mai und Juni, wo der alte Kaiserstaat zusammen zu
stürzen schien, da mußten die Atome zu ihrem Ursprünge zurückkehren. Italien
und Ungarn losgerissen vom Gesammtkörper, Galizien mit Selbstständigkeitsideen
beschäftigt — was sollte das reduzirte Oestreich mit seinen deutschen Provinzen
anders, als in dem gesammten Mutterland aufgehen? Was konnten wir Deutsch¬
land zu seiner Erkräftigung und Neugestaltung weniger bieten, als uns selbst, uns
ganz und gar? Wider alles Erwarten hat der künstlich zusammen gezimmerte


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[0049] Offene Briefe IV. An I g n a z Ruranda in Wien. Lieber Freund! Wie kommt es Ihnen vor, daß die Grenzboten einen offnen Brief an Sie erlassen? Ich hatte mir diesen Witz schon lange ausgedacht, fand aber keine pas¬ sende Gelegenheit dazu. Die erste Nummer Ihrer „Ostdeutschen Post" bietet mir diese Gelegenheit. Meine Erwartung, Ihre Zeitung werde nicht nur in der öst¬ reichischen Presse einen höchst ehrenwerthen Rang einnehmen, sondern auch vor¬ zugsweise dazu geeignet sein, die politische Bildung Ihres Vaterlandes dem Reich gegenüber zu vertreten, wird schon durch diese erste Nummer bestätigt. Um so angemessener scheint es mir, das Verhältniß unserer Ansichten, soweit sie Oestreich betreffen, sogleich scharf herauszustellen. In dem ziemlich ausführlichen Programm, das Sie mit den Worten einleiten: „Wir geben kein Programm", heißt es am Schluß: „Die Freiheit und die Na¬ tionalität!" Für uns sind beide Worte synonym, die deutsche Nationalität ist die Trägerin der Freiheit in Oestreich; nicht blos für uns Deutsche, auch für un¬ sere nichtdeutschen Staatsgenossen ist sie die sicherste Garantie gegen die Rückfälle des Absolutismus. Nur in den^abgeschlossenen Oestreich war die Metternich'sche Tyrannei ausführbar. Im Verbände mit der gebildetesten Nation Europas, im innigsten Verbände mit 40 Millionen freien deutscheu Männern ist keine ernste Reaktion auf die Länge möglich. Wir sagen im innigsten Verbände; wir schonen die Empfindlichkeit unserer nichtdeutschen Staatsgenossen und sagen nicht: im voll¬ ständigen „Aufgehen." Im Mai und Juni, wo der alte Kaiserstaat zusammen zu stürzen schien, da mußten die Atome zu ihrem Ursprünge zurückkehren. Italien und Ungarn losgerissen vom Gesammtkörper, Galizien mit Selbstständigkeitsideen beschäftigt — was sollte das reduzirte Oestreich mit seinen deutschen Provinzen anders, als in dem gesammten Mutterland aufgehen? Was konnten wir Deutsch¬ land zu seiner Erkräftigung und Neugestaltung weniger bieten, als uns selbst, uns ganz und gar? Wider alles Erwarten hat der künstlich zusammen gezimmerte Krenzhot«». IV. 1848. g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/49>, abgerufen am 24.12.2024.