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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Persönliche Verhältnisse nöthigten mich, Wien zu verlassen. Die Nordbahn
war erst von Florisdorf an befahrbar, die zwei Meilen dahin konnte man im
Fiacre zurücklegen, der dafür mit horribeln Summen bezahlt werden mußte. Deu
Abreisenden wurden keinerlei Schwierigkeiten gemacht, man untersuchte nur an der
Taborbrücke, ob sie keine Waffen, was verboten, mit sich führten. War schon
die Landstraße so mit Flüchtigen bedeckt, daß ihr Zug einer Völkerwanderung
glich, so stellte der Bahnhof in Florisdorf das Lager der Bevölkerung einer großen
Stadt vor, deren Gebäude das Feuer vernichtet hat. Welche Auftritte habe ich
da erlebt! Ohnmächtige Mütter, denen ein Kind im Getümmel entkommen war,
verzweifelnde Frauen, die alle ihre Habe vermißten, Wahnsinnige, welche sich
Bahn zu der Casse zu brechen suchten -- diese war ärger belagert, wie ein Bäcker¬
laden zur Zeit einer Hungersnoth, und trotz eines Kampfes, der um !> Uhr Nach¬
mittags begann, war es mir doch erst um 10 Uhr möglich ein Fahrbillet zu er¬
halten. Dasselbe galt zwar für die erste Klasse, aber ich war glücklich, nnr in
der dritten noch einen Platz zu finden, auf welchem ich, gequetscht zwischen wim¬
mernde Matronen, eine siebenstündige Folter auszustehen hatte. Unser Zug hatte
85 Waggons, nud fuhr, trotz dreifacher Dampfkraft, sehr langsam. Daher er¬
reichten wir erst mit dem einbrechenden Morgen Luudenbnrg. Ferne Musik tönte
in unsere Ohren -- in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne funkelten die
Bajonette böhmischer Regimenter, welche auf der Landstraße abseits der Eisenbahn
gen Süden marschirten. Sie zogen nach Wien. -- Armes Wien!


Wilhelm 'Samen.


Die Stellung Preußens zur deutschen Reichsverfassung.



Trotz der Niederlagen der Anarchisten in Frankfurt und Baden, trotz dem
festen Auftreten des Reichsministeriums war der Zustand Deutschlands ein sehr
bedenklicher, bis die Wiener Nachrichten der drohenden Spannung ein eben so
gewaltiger, als der Mehrzahl unerwarteter Ableiter wurden. Unser Kampf steht
fast still, weil alle Parteien mit gespannter Erwartung auf den Schauplatz sehen,
von dem jede hofft, daß ein günstiges Gewicht für sie in die Wagschale fallen
werde. Die Entscheidung der dortigen Krisis kann sich noch Wochen lang hinzie-
hen. Wir wollen unterdeß, gleichsam Athem schöpfend, die Lage Deutschlands
wieder ins Ange fassen, wie sie war, bis die Vorgänge in Wien alle unsere Thä¬
tigkeit vorläufig absorbirten.


Persönliche Verhältnisse nöthigten mich, Wien zu verlassen. Die Nordbahn
war erst von Florisdorf an befahrbar, die zwei Meilen dahin konnte man im
Fiacre zurücklegen, der dafür mit horribeln Summen bezahlt werden mußte. Deu
Abreisenden wurden keinerlei Schwierigkeiten gemacht, man untersuchte nur an der
Taborbrücke, ob sie keine Waffen, was verboten, mit sich führten. War schon
die Landstraße so mit Flüchtigen bedeckt, daß ihr Zug einer Völkerwanderung
glich, so stellte der Bahnhof in Florisdorf das Lager der Bevölkerung einer großen
Stadt vor, deren Gebäude das Feuer vernichtet hat. Welche Auftritte habe ich
da erlebt! Ohnmächtige Mütter, denen ein Kind im Getümmel entkommen war,
verzweifelnde Frauen, die alle ihre Habe vermißten, Wahnsinnige, welche sich
Bahn zu der Casse zu brechen suchten — diese war ärger belagert, wie ein Bäcker¬
laden zur Zeit einer Hungersnoth, und trotz eines Kampfes, der um !> Uhr Nach¬
mittags begann, war es mir doch erst um 10 Uhr möglich ein Fahrbillet zu er¬
halten. Dasselbe galt zwar für die erste Klasse, aber ich war glücklich, nnr in
der dritten noch einen Platz zu finden, auf welchem ich, gequetscht zwischen wim¬
mernde Matronen, eine siebenstündige Folter auszustehen hatte. Unser Zug hatte
85 Waggons, nud fuhr, trotz dreifacher Dampfkraft, sehr langsam. Daher er¬
reichten wir erst mit dem einbrechenden Morgen Luudenbnrg. Ferne Musik tönte
in unsere Ohren — in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne funkelten die
Bajonette böhmischer Regimenter, welche auf der Landstraße abseits der Eisenbahn
gen Süden marschirten. Sie zogen nach Wien. — Armes Wien!


Wilhelm 'Samen.


Die Stellung Preußens zur deutschen Reichsverfassung.



Trotz der Niederlagen der Anarchisten in Frankfurt und Baden, trotz dem
festen Auftreten des Reichsministeriums war der Zustand Deutschlands ein sehr
bedenklicher, bis die Wiener Nachrichten der drohenden Spannung ein eben so
gewaltiger, als der Mehrzahl unerwarteter Ableiter wurden. Unser Kampf steht
fast still, weil alle Parteien mit gespannter Erwartung auf den Schauplatz sehen,
von dem jede hofft, daß ein günstiges Gewicht für sie in die Wagschale fallen
werde. Die Entscheidung der dortigen Krisis kann sich noch Wochen lang hinzie-
hen. Wir wollen unterdeß, gleichsam Athem schöpfend, die Lage Deutschlands
wieder ins Ange fassen, wie sie war, bis die Vorgänge in Wien alle unsere Thä¬
tigkeit vorläufig absorbirten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/150>, abgerufen am 03.07.2024.