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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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i.
Biedermann, Vorlesungen über den Sozialismus

Diese Vorlesungen sind wirklich gehalten, vor einem gemischten Auditorium,
in Leipzig und Dresden. Sie haben nicht den Zweck, etwas wesentlich Neues
zu produziren, sondern nur Fragen, die nach allen Seiten hin ventilirt sind,
auf eine einfache und schlichte Weise dem großern Publikum verständlich zu machen.

Der Sozialismus hat eine doppelte Bedeutung, eine wissenschaftliche und
eine factische. Er unterscheidet sich von Rechtswissenschaft, Politik n. f. w. da¬
durch, daß er die Grundbegriffe, aus welchen jene beruhen, und die sie ohne
weiteres voraussetzen, z. B. Eigenthum, Staat, Handel u. s. w. in Frage stellt.
Er hat seine Berechtigung in den Fortschritten der Kritik einerseits, die vor keiner
Schranke stehen bleiben darf, andererseits in dem gefahrdrohenden Wachsthum
einer recht- und besitzlosen Classe, des Proletariats. Als Veranlassung des letz¬
tern werden angegeben: Uebervölkerung, die ungleiche Vertheilung der Arbeiten
rend Genüsse, und das Mißverhältnis), welches zwischen der rechtlichen (fictiven)
Freiheit und Gleichheit der untern Classe" und der der obern und ihrer ökonomischen
Unfreiheit und gänzlichen Abhängigkeit von diesen letztem stattfindet. Demnach
hat der Sozialismus drei Probleme zu losen. 1) Jede menschliche Thätigkeit
muß sich mit vollkommenster Freiheit entwickeln und äußern können. 2) Es gilt,
das richtige, natürliche und gerechte Verhältniß zwischen der Thätigkeit und dem,
Genuß eines jeden Einzelnen aufzufinden. 3) Die Gesellschaft muß durch ihre
Einrichtungen dahin streben, eine möglichst große Summe von möglichst vollkom¬
menen Gegenständen des Verbrauchs oder Genusses herbeizuschaffen und eben so
die zweckmäßigste Art ihrer Benutzung in's Werk zu setzen. -- Neben dieser öko¬
nomischen Aufgabe hat dann der Sozialismus noch weitere; z. B. Reform der
Ehe, der Familie, der Erziehung u. f. w. Er ist mit einem Wort der Versuch
eines vollständigen Systems der Gesellschaft.

Nach diesen allgemeinen Erklärungen geht Biedermann auf die Geschichte
der sozialistischen Tendenzen über, spricht Einiges von Plato und Pythagoras,
und kommt dann auf Baboeuf, den eigentlichen Begründer des Sozialismus oder



*) Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen. Leipzig 1847.
Biedermann'sche Verlagsbuchhandlung.
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i.
Biedermann, Vorlesungen über den Sozialismus

Diese Vorlesungen sind wirklich gehalten, vor einem gemischten Auditorium,
in Leipzig und Dresden. Sie haben nicht den Zweck, etwas wesentlich Neues
zu produziren, sondern nur Fragen, die nach allen Seiten hin ventilirt sind,
auf eine einfache und schlichte Weise dem großern Publikum verständlich zu machen.

Der Sozialismus hat eine doppelte Bedeutung, eine wissenschaftliche und
eine factische. Er unterscheidet sich von Rechtswissenschaft, Politik n. f. w. da¬
durch, daß er die Grundbegriffe, aus welchen jene beruhen, und die sie ohne
weiteres voraussetzen, z. B. Eigenthum, Staat, Handel u. s. w. in Frage stellt.
Er hat seine Berechtigung in den Fortschritten der Kritik einerseits, die vor keiner
Schranke stehen bleiben darf, andererseits in dem gefahrdrohenden Wachsthum
einer recht- und besitzlosen Classe, des Proletariats. Als Veranlassung des letz¬
tern werden angegeben: Uebervölkerung, die ungleiche Vertheilung der Arbeiten
rend Genüsse, und das Mißverhältnis), welches zwischen der rechtlichen (fictiven)
Freiheit und Gleichheit der untern Classe» und der der obern und ihrer ökonomischen
Unfreiheit und gänzlichen Abhängigkeit von diesen letztem stattfindet. Demnach
hat der Sozialismus drei Probleme zu losen. 1) Jede menschliche Thätigkeit
muß sich mit vollkommenster Freiheit entwickeln und äußern können. 2) Es gilt,
das richtige, natürliche und gerechte Verhältniß zwischen der Thätigkeit und dem,
Genuß eines jeden Einzelnen aufzufinden. 3) Die Gesellschaft muß durch ihre
Einrichtungen dahin streben, eine möglichst große Summe von möglichst vollkom¬
menen Gegenständen des Verbrauchs oder Genusses herbeizuschaffen und eben so
die zweckmäßigste Art ihrer Benutzung in's Werk zu setzen. — Neben dieser öko¬
nomischen Aufgabe hat dann der Sozialismus noch weitere; z. B. Reform der
Ehe, der Familie, der Erziehung u. f. w. Er ist mit einem Wort der Versuch
eines vollständigen Systems der Gesellschaft.

Nach diesen allgemeinen Erklärungen geht Biedermann auf die Geschichte
der sozialistischen Tendenzen über, spricht Einiges von Plato und Pythagoras,
und kommt dann auf Baboeuf, den eigentlichen Begründer des Sozialismus oder



*) Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen. Leipzig 1847.
Biedermann'sche Verlagsbuchhandlung.
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[0388] T a g e b u es. i. Biedermann, Vorlesungen über den Sozialismus Diese Vorlesungen sind wirklich gehalten, vor einem gemischten Auditorium, in Leipzig und Dresden. Sie haben nicht den Zweck, etwas wesentlich Neues zu produziren, sondern nur Fragen, die nach allen Seiten hin ventilirt sind, auf eine einfache und schlichte Weise dem großern Publikum verständlich zu machen. Der Sozialismus hat eine doppelte Bedeutung, eine wissenschaftliche und eine factische. Er unterscheidet sich von Rechtswissenschaft, Politik n. f. w. da¬ durch, daß er die Grundbegriffe, aus welchen jene beruhen, und die sie ohne weiteres voraussetzen, z. B. Eigenthum, Staat, Handel u. s. w. in Frage stellt. Er hat seine Berechtigung in den Fortschritten der Kritik einerseits, die vor keiner Schranke stehen bleiben darf, andererseits in dem gefahrdrohenden Wachsthum einer recht- und besitzlosen Classe, des Proletariats. Als Veranlassung des letz¬ tern werden angegeben: Uebervölkerung, die ungleiche Vertheilung der Arbeiten rend Genüsse, und das Mißverhältnis), welches zwischen der rechtlichen (fictiven) Freiheit und Gleichheit der untern Classe» und der der obern und ihrer ökonomischen Unfreiheit und gänzlichen Abhängigkeit von diesen letztem stattfindet. Demnach hat der Sozialismus drei Probleme zu losen. 1) Jede menschliche Thätigkeit muß sich mit vollkommenster Freiheit entwickeln und äußern können. 2) Es gilt, das richtige, natürliche und gerechte Verhältniß zwischen der Thätigkeit und dem, Genuß eines jeden Einzelnen aufzufinden. 3) Die Gesellschaft muß durch ihre Einrichtungen dahin streben, eine möglichst große Summe von möglichst vollkom¬ menen Gegenständen des Verbrauchs oder Genusses herbeizuschaffen und eben so die zweckmäßigste Art ihrer Benutzung in's Werk zu setzen. — Neben dieser öko¬ nomischen Aufgabe hat dann der Sozialismus noch weitere; z. B. Reform der Ehe, der Familie, der Erziehung u. f. w. Er ist mit einem Wort der Versuch eines vollständigen Systems der Gesellschaft. Nach diesen allgemeinen Erklärungen geht Biedermann auf die Geschichte der sozialistischen Tendenzen über, spricht Einiges von Plato und Pythagoras, und kommt dann auf Baboeuf, den eigentlichen Begründer des Sozialismus oder *) Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen. Leipzig 1847. Biedermann'sche Verlagsbuchhandlung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/388>, abgerufen am 01.09.2024.