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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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einsehen lernen, weiche ungeheure Lücke er durch sein Scheiden in der Literatur
zurückläßt. Dann wird sich eine gerechtere Md unbefangenere Würdigung Hein¬
rich Heine's Platz machen, man wird einsehen, daß er der erste Dichter Deutsch¬
lands in der Nach-Goethe'schen Periode gewesen und der Wanderer, der bei
Rousseau's Eremitage einkehrt, wird nicht versäumen, auch vor jener Eremitage
Meißner zu weilen, wo Heinrich Heine gelebt und gedichtet hat.


II.
Eine neue Schrift über Goethe.
Von Karl Rosenkranz. Goethe und seine Werke.

Der Verfasser beabsichtigte in diesem Werke ein Gesammtbild jenes Dichters zu
geben, den die Nation als ihren Prototyp zu verehren gewohnt ist, ein Bild,
das aus philosophischem Verständniß hervorgegangen, in seiner Gruppirung und
Färbung den künstlerischen Anforderungen entsprechen soll. Es find Vorlesungen,
zu Hause nachgeschrieben, wie sie in dem Königsberger Auditorium, das uns der
Verfasser mit seinem bekannten plastischen Localsinn höchst anschaulich darstellt,
wirklich gehalten waren. Aber man denke bei modernen Vorlesungen nicht mehr
an die pedantische Gravität, wie sie sonst den Professor elaPimitm"; auszeichnen
mußte; der Docent spricht wie ein gewöhnlicher Mensch, er steht im Hauskleide
vor seinen Zuhörern, er unterhält sich mit ihnen, plaudert anmuthig und be¬
redt, ja er läßt sich von ihnen inspiriren. Namentlich ist von der Terminologie
der philosophischen Schule kaum hie und da noch eine Spur zu entdecken. Uns
will sogar bedünken, als ob hin und wieder der Popularität zu viel zugestanden sei,
als ob die Sprache hie und da sich gar zu wohlgefällig im eleganten Neglig"?
bewege. Jedenfalls wird die Verbreitung des Werkes dadurch gefördert werden;
ich kann mir wenigstens unter der Elasse der Gebildeten keinen vorstellen, der
es nicht von Anfang bis zu Ende verstehen sollte, der, so Vortreffliches er dar¬
aus lernt, es nicht ohne erhebliche Mühe in sich ausnehmen könnte. Ja es
scheint, als ob dem Leser selbst die Mühe der Erinnerung erspart werden sollte,
denn man erzählt uns den Inhalt des Werther, des Tasso, der Iphigenie ziem¬
lich ausführlich, wie man sonst wohl Berichte von weniger bekannten Autoren
abstattet.

In der Vorrede werden wir einigermaßen überrascht, die Ansichten des Ver¬
fassers" über die Stellung Preußens zu Deutschland entwickelt zu sehen, und zwar
mit einer halb wohl ironischen, halb aber ernst gemeinten Apologie der neueren
Tendenzen, denen der politische Sinn sonst abgeneigt sein möchte. Gerade weil
Preußen ein rationalistischer Staat ist, soll nach der Ansicht des Verfassers in
seiner Erscheinung auch das Moment der Phantasie, des mysteriösen Gefühls, der
Romantik als nothwendiger Koefficient austreten. Auf ähnliche Weise werden
wir zuweilen in den Vorlesungen selbst überrascht, wenn irgend eine partielle
Aeußerung Goethe'S, oder der Gang einer seiner Schriften den Verfasser aus der
Objectivität seiner sonstigen Darstellung in sein eigenes Gebiet hinübertreibt.

Zuerst entwickelt der Verfasser den Standpunkt, den seine eigene Kritik ein-


einsehen lernen, weiche ungeheure Lücke er durch sein Scheiden in der Literatur
zurückläßt. Dann wird sich eine gerechtere Md unbefangenere Würdigung Hein¬
rich Heine's Platz machen, man wird einsehen, daß er der erste Dichter Deutsch¬
lands in der Nach-Goethe'schen Periode gewesen und der Wanderer, der bei
Rousseau's Eremitage einkehrt, wird nicht versäumen, auch vor jener Eremitage
Meißner zu weilen, wo Heinrich Heine gelebt und gedichtet hat.


II.
Eine neue Schrift über Goethe.
Von Karl Rosenkranz. Goethe und seine Werke.

Der Verfasser beabsichtigte in diesem Werke ein Gesammtbild jenes Dichters zu
geben, den die Nation als ihren Prototyp zu verehren gewohnt ist, ein Bild,
das aus philosophischem Verständniß hervorgegangen, in seiner Gruppirung und
Färbung den künstlerischen Anforderungen entsprechen soll. Es find Vorlesungen,
zu Hause nachgeschrieben, wie sie in dem Königsberger Auditorium, das uns der
Verfasser mit seinem bekannten plastischen Localsinn höchst anschaulich darstellt,
wirklich gehalten waren. Aber man denke bei modernen Vorlesungen nicht mehr
an die pedantische Gravität, wie sie sonst den Professor elaPimitm«; auszeichnen
mußte; der Docent spricht wie ein gewöhnlicher Mensch, er steht im Hauskleide
vor seinen Zuhörern, er unterhält sich mit ihnen, plaudert anmuthig und be¬
redt, ja er läßt sich von ihnen inspiriren. Namentlich ist von der Terminologie
der philosophischen Schule kaum hie und da noch eine Spur zu entdecken. Uns
will sogar bedünken, als ob hin und wieder der Popularität zu viel zugestanden sei,
als ob die Sprache hie und da sich gar zu wohlgefällig im eleganten Neglig«?
bewege. Jedenfalls wird die Verbreitung des Werkes dadurch gefördert werden;
ich kann mir wenigstens unter der Elasse der Gebildeten keinen vorstellen, der
es nicht von Anfang bis zu Ende verstehen sollte, der, so Vortreffliches er dar¬
aus lernt, es nicht ohne erhebliche Mühe in sich ausnehmen könnte. Ja es
scheint, als ob dem Leser selbst die Mühe der Erinnerung erspart werden sollte,
denn man erzählt uns den Inhalt des Werther, des Tasso, der Iphigenie ziem¬
lich ausführlich, wie man sonst wohl Berichte von weniger bekannten Autoren
abstattet.

In der Vorrede werden wir einigermaßen überrascht, die Ansichten des Ver¬
fassers" über die Stellung Preußens zu Deutschland entwickelt zu sehen, und zwar
mit einer halb wohl ironischen, halb aber ernst gemeinten Apologie der neueren
Tendenzen, denen der politische Sinn sonst abgeneigt sein möchte. Gerade weil
Preußen ein rationalistischer Staat ist, soll nach der Ansicht des Verfassers in
seiner Erscheinung auch das Moment der Phantasie, des mysteriösen Gefühls, der
Romantik als nothwendiger Koefficient austreten. Auf ähnliche Weise werden
wir zuweilen in den Vorlesungen selbst überrascht, wenn irgend eine partielle
Aeußerung Goethe'S, oder der Gang einer seiner Schriften den Verfasser aus der
Objectivität seiner sonstigen Darstellung in sein eigenes Gebiet hinübertreibt.

Zuerst entwickelt der Verfasser den Standpunkt, den seine eigene Kritik ein-


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[0300] einsehen lernen, weiche ungeheure Lücke er durch sein Scheiden in der Literatur zurückläßt. Dann wird sich eine gerechtere Md unbefangenere Würdigung Hein¬ rich Heine's Platz machen, man wird einsehen, daß er der erste Dichter Deutsch¬ lands in der Nach-Goethe'schen Periode gewesen und der Wanderer, der bei Rousseau's Eremitage einkehrt, wird nicht versäumen, auch vor jener Eremitage Meißner zu weilen, wo Heinrich Heine gelebt und gedichtet hat. II. Eine neue Schrift über Goethe. Von Karl Rosenkranz. Goethe und seine Werke. Der Verfasser beabsichtigte in diesem Werke ein Gesammtbild jenes Dichters zu geben, den die Nation als ihren Prototyp zu verehren gewohnt ist, ein Bild, das aus philosophischem Verständniß hervorgegangen, in seiner Gruppirung und Färbung den künstlerischen Anforderungen entsprechen soll. Es find Vorlesungen, zu Hause nachgeschrieben, wie sie in dem Königsberger Auditorium, das uns der Verfasser mit seinem bekannten plastischen Localsinn höchst anschaulich darstellt, wirklich gehalten waren. Aber man denke bei modernen Vorlesungen nicht mehr an die pedantische Gravität, wie sie sonst den Professor elaPimitm«; auszeichnen mußte; der Docent spricht wie ein gewöhnlicher Mensch, er steht im Hauskleide vor seinen Zuhörern, er unterhält sich mit ihnen, plaudert anmuthig und be¬ redt, ja er läßt sich von ihnen inspiriren. Namentlich ist von der Terminologie der philosophischen Schule kaum hie und da noch eine Spur zu entdecken. Uns will sogar bedünken, als ob hin und wieder der Popularität zu viel zugestanden sei, als ob die Sprache hie und da sich gar zu wohlgefällig im eleganten Neglig«? bewege. Jedenfalls wird die Verbreitung des Werkes dadurch gefördert werden; ich kann mir wenigstens unter der Elasse der Gebildeten keinen vorstellen, der es nicht von Anfang bis zu Ende verstehen sollte, der, so Vortreffliches er dar¬ aus lernt, es nicht ohne erhebliche Mühe in sich ausnehmen könnte. Ja es scheint, als ob dem Leser selbst die Mühe der Erinnerung erspart werden sollte, denn man erzählt uns den Inhalt des Werther, des Tasso, der Iphigenie ziem¬ lich ausführlich, wie man sonst wohl Berichte von weniger bekannten Autoren abstattet. In der Vorrede werden wir einigermaßen überrascht, die Ansichten des Ver¬ fassers" über die Stellung Preußens zu Deutschland entwickelt zu sehen, und zwar mit einer halb wohl ironischen, halb aber ernst gemeinten Apologie der neueren Tendenzen, denen der politische Sinn sonst abgeneigt sein möchte. Gerade weil Preußen ein rationalistischer Staat ist, soll nach der Ansicht des Verfassers in seiner Erscheinung auch das Moment der Phantasie, des mysteriösen Gefühls, der Romantik als nothwendiger Koefficient austreten. Auf ähnliche Weise werden wir zuweilen in den Vorlesungen selbst überrascht, wenn irgend eine partielle Aeußerung Goethe'S, oder der Gang einer seiner Schriften den Verfasser aus der Objectivität seiner sonstigen Darstellung in sein eigenes Gebiet hinübertreibt. Zuerst entwickelt der Verfasser den Standpunkt, den seine eigene Kritik ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/300>, abgerufen am 27.07.2024.