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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Es entwickelt sich eben in Folge solcher Ueberfüllung ein so tückischer
Krankheitsgenius, daß Kranke, die wegen ganz unbedeutenden, leicht heil¬
baren Krankheiten in's Spital kommen, hier nicht selten ihr Lebensziel fin¬
den, während sie außerhalb des Spitals bei dürftiger Pflege noch lange ihr
Leben fristen konnten.

Wer mit dem Spitale nur irgendwie in Berührung kommt, oder im
verflossenen Winter die Todtenlisten in der Wiener Zeitung eines Blickes
würdigte, der weiß, wie grauenhaft um diese Zeit die Sterblichkeit im all¬
gemeinen Krankenhause war. Daß die Ueberfüllung der Krankenzimmer vie¬
les dazu beigetragen hat, kann mit vollem Rechte behauptet werden. That¬
sache ist es, daß im letzten oder vorletzten Wintermonat dieses Jahres in
einem dieser überfüllten Zimmer alle Kranke ausstarben, so daß man es,
freilich etwas zu spät, gänzlich absperrte.

Und doch weiß die Direction aus Erfahrung, wie bereit die Regierung
ist, der räumlichen Beschränktheit des Spitals bei zu großem Gedränge ab¬
zuhelfen. Die Direction brauchte blos, um die entsetzlichen Folgen der Ueber¬
füllung zu vermeiden, bei der Negierung darauf anzutragen, daß ein nahe¬
liegendes Haus gemiethet werde*), um darin die Kranken unterzubringen,
die ohne die größte Gefahr für sich und Andere im Hauptgebäude uicht auf¬
genommen werden dürfen. Solche Anträge wurden unter den Vorgängern
des gegenwärtigen Directors oft genug gemacht, und stets mit größter Will¬
fährigkeit angenommen.

Warum machte man jetzt nicht den leichten Schritt, jetzt, wo das Be¬
dürfniß so sehr gesteigert war, wo die Pflicht der Humanität, die Pflicht
des Arztes, wie des Beamten es erheischte, die Regierung auf Abwehr des
gehäuften Uebels aufmerksam zu machen? Will etwa die Direction ihren
ökonomischen Ruf nicht schmälern? Will sie etwa beweisen, daß sie außer¬
ordentliche Bedürfnissen mit nicht außerordentlichen Mitteln begegnen könne?
Ein Blick auf die Todtenlisten würde derlei Bestrebungen in das gehörige
Licht setzen.


III. Die sonderbare Controle.

Ist der Kranke verschieden, so kommt seine Hülle in die sogenannte Lei-
chenbeisetzkammer, d. i. in einen Saal, wo niederhängende Glockenzuge den
Leichnam um die Hände gebunden werden. Diese Glockenzuge correspondiren



*) Wie wir aus den Zeitungen ersehen, ist dieses in den letzten Wochen wirklich
D. Red. geschehen.

Es entwickelt sich eben in Folge solcher Ueberfüllung ein so tückischer
Krankheitsgenius, daß Kranke, die wegen ganz unbedeutenden, leicht heil¬
baren Krankheiten in's Spital kommen, hier nicht selten ihr Lebensziel fin¬
den, während sie außerhalb des Spitals bei dürftiger Pflege noch lange ihr
Leben fristen konnten.

Wer mit dem Spitale nur irgendwie in Berührung kommt, oder im
verflossenen Winter die Todtenlisten in der Wiener Zeitung eines Blickes
würdigte, der weiß, wie grauenhaft um diese Zeit die Sterblichkeit im all¬
gemeinen Krankenhause war. Daß die Ueberfüllung der Krankenzimmer vie¬
les dazu beigetragen hat, kann mit vollem Rechte behauptet werden. That¬
sache ist es, daß im letzten oder vorletzten Wintermonat dieses Jahres in
einem dieser überfüllten Zimmer alle Kranke ausstarben, so daß man es,
freilich etwas zu spät, gänzlich absperrte.

Und doch weiß die Direction aus Erfahrung, wie bereit die Regierung
ist, der räumlichen Beschränktheit des Spitals bei zu großem Gedränge ab¬
zuhelfen. Die Direction brauchte blos, um die entsetzlichen Folgen der Ueber¬
füllung zu vermeiden, bei der Negierung darauf anzutragen, daß ein nahe¬
liegendes Haus gemiethet werde*), um darin die Kranken unterzubringen,
die ohne die größte Gefahr für sich und Andere im Hauptgebäude uicht auf¬
genommen werden dürfen. Solche Anträge wurden unter den Vorgängern
des gegenwärtigen Directors oft genug gemacht, und stets mit größter Will¬
fährigkeit angenommen.

Warum machte man jetzt nicht den leichten Schritt, jetzt, wo das Be¬
dürfniß so sehr gesteigert war, wo die Pflicht der Humanität, die Pflicht
des Arztes, wie des Beamten es erheischte, die Regierung auf Abwehr des
gehäuften Uebels aufmerksam zu machen? Will etwa die Direction ihren
ökonomischen Ruf nicht schmälern? Will sie etwa beweisen, daß sie außer¬
ordentliche Bedürfnissen mit nicht außerordentlichen Mitteln begegnen könne?
Ein Blick auf die Todtenlisten würde derlei Bestrebungen in das gehörige
Licht setzen.


III. Die sonderbare Controle.

Ist der Kranke verschieden, so kommt seine Hülle in die sogenannte Lei-
chenbeisetzkammer, d. i. in einen Saal, wo niederhängende Glockenzuge den
Leichnam um die Hände gebunden werden. Diese Glockenzuge correspondiren



*) Wie wir aus den Zeitungen ersehen, ist dieses in den letzten Wochen wirklich
D. Red. geschehen.
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[0568] Es entwickelt sich eben in Folge solcher Ueberfüllung ein so tückischer Krankheitsgenius, daß Kranke, die wegen ganz unbedeutenden, leicht heil¬ baren Krankheiten in's Spital kommen, hier nicht selten ihr Lebensziel fin¬ den, während sie außerhalb des Spitals bei dürftiger Pflege noch lange ihr Leben fristen konnten. Wer mit dem Spitale nur irgendwie in Berührung kommt, oder im verflossenen Winter die Todtenlisten in der Wiener Zeitung eines Blickes würdigte, der weiß, wie grauenhaft um diese Zeit die Sterblichkeit im all¬ gemeinen Krankenhause war. Daß die Ueberfüllung der Krankenzimmer vie¬ les dazu beigetragen hat, kann mit vollem Rechte behauptet werden. That¬ sache ist es, daß im letzten oder vorletzten Wintermonat dieses Jahres in einem dieser überfüllten Zimmer alle Kranke ausstarben, so daß man es, freilich etwas zu spät, gänzlich absperrte. Und doch weiß die Direction aus Erfahrung, wie bereit die Regierung ist, der räumlichen Beschränktheit des Spitals bei zu großem Gedränge ab¬ zuhelfen. Die Direction brauchte blos, um die entsetzlichen Folgen der Ueber¬ füllung zu vermeiden, bei der Negierung darauf anzutragen, daß ein nahe¬ liegendes Haus gemiethet werde*), um darin die Kranken unterzubringen, die ohne die größte Gefahr für sich und Andere im Hauptgebäude uicht auf¬ genommen werden dürfen. Solche Anträge wurden unter den Vorgängern des gegenwärtigen Directors oft genug gemacht, und stets mit größter Will¬ fährigkeit angenommen. Warum machte man jetzt nicht den leichten Schritt, jetzt, wo das Be¬ dürfniß so sehr gesteigert war, wo die Pflicht der Humanität, die Pflicht des Arztes, wie des Beamten es erheischte, die Regierung auf Abwehr des gehäuften Uebels aufmerksam zu machen? Will etwa die Direction ihren ökonomischen Ruf nicht schmälern? Will sie etwa beweisen, daß sie außer¬ ordentliche Bedürfnissen mit nicht außerordentlichen Mitteln begegnen könne? Ein Blick auf die Todtenlisten würde derlei Bestrebungen in das gehörige Licht setzen. III. Die sonderbare Controle. Ist der Kranke verschieden, so kommt seine Hülle in die sogenannte Lei- chenbeisetzkammer, d. i. in einen Saal, wo niederhängende Glockenzuge den Leichnam um die Hände gebunden werden. Diese Glockenzuge correspondiren *) Wie wir aus den Zeitungen ersehen, ist dieses in den letzten Wochen wirklich D. Red. geschehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/568>, abgerufen am 22.07.2024.