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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Friedrich Hebbel.

Judith 1"40. -- Genvvcva Is^S. -- Maria Magduicna I8i4. -- Der Diamant

Unsere Zeit ist nicht so reich MI wahren Poeten, daß die Kritik nicht
eifrigst nach jedem Goldkorn in der Spreu stöbern sollte. Fühlen wir uns
einmal erquickt von dem Hauch des Genius, der ans einer Dichtung un¬
mittelbar in die Seele weht, so verdrießt es uns, wenn uns wie aus einer
Dorade das kalte Wasser der Reflexion überströmt und nus das süße Gefühl
der Bewunderung verkümmern will. Und wahrlich, thäte es noch Noth,
gegen den Unverstand des Publikums die ursprüngliche Kraft, die grandiose
Naturwahrheit jenes Dichters zu vertreten, der den entnervenden Reflexionen
eines blasirten Zeitalters einmal wieder das Bild ganzer Menschen entgegen¬
hält, so würde ich der Letzte sein, an einer Erscheinung zu mäkeln, dienlich
selbst in meinem Innersten ergrissen hat. Aber die Kritik hat darin jetzt
ihre Schuldigkeit gethan; die Bedeutung Hel'bel'S, seine groß gedachte Cha¬
rakteristik im Gegensatz gegen die marklosen Phantasiegestalten seiner meisten
Nebenbuhler, ist hinreichend gewürdigt, und ich darf es jetzt vor meinem
Gewissen verantworten, wenn ich dem Dichter zurufe: Du bist auf einem
Abwege, vou dem man noch nicht gewiß weiß, wohin er führen kann.

In der Vorcede zu Maria Magdalena lese ich folgende Stelle: "Für
Rechenfehler ist Jedermann verantwortlich; dein Dichter dagegen muß man
verzeihen, wenn er es uicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal
die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen will oder nicht, denn
das einmal Lebendiggewordene läßt sich nicht zurückverdauen, es läßt sich
nicht wieder in Blut verwandeln, sondern muß in freier Selbständigkeit
hervortreten, und eine unterdrückte oder unmögliche geistige Entbindung
kann eben so gut wie eine leibliche, die Vernichtung, sei es nun durch den
Tod oder durch den Wahnsinn nach sich ziehen. Man denke an Lenz,
an Hölderlin, an Grabbc."

Ich muß gestehen, daß mich der nämliche Gedanke durchfröstelte, als
ich das neueste Werk des Dichters las. Hebbel ist zwar ein größerer Dichter,


Gr-nzbote". II. 1847. 66
Friedrich Hebbel.

Judith 1«40. — Genvvcva Is^S. — Maria Magduicna I8i4. — Der Diamant

Unsere Zeit ist nicht so reich MI wahren Poeten, daß die Kritik nicht
eifrigst nach jedem Goldkorn in der Spreu stöbern sollte. Fühlen wir uns
einmal erquickt von dem Hauch des Genius, der ans einer Dichtung un¬
mittelbar in die Seele weht, so verdrießt es uns, wenn uns wie aus einer
Dorade das kalte Wasser der Reflexion überströmt und nus das süße Gefühl
der Bewunderung verkümmern will. Und wahrlich, thäte es noch Noth,
gegen den Unverstand des Publikums die ursprüngliche Kraft, die grandiose
Naturwahrheit jenes Dichters zu vertreten, der den entnervenden Reflexionen
eines blasirten Zeitalters einmal wieder das Bild ganzer Menschen entgegen¬
hält, so würde ich der Letzte sein, an einer Erscheinung zu mäkeln, dienlich
selbst in meinem Innersten ergrissen hat. Aber die Kritik hat darin jetzt
ihre Schuldigkeit gethan; die Bedeutung Hel'bel'S, seine groß gedachte Cha¬
rakteristik im Gegensatz gegen die marklosen Phantasiegestalten seiner meisten
Nebenbuhler, ist hinreichend gewürdigt, und ich darf es jetzt vor meinem
Gewissen verantworten, wenn ich dem Dichter zurufe: Du bist auf einem
Abwege, vou dem man noch nicht gewiß weiß, wohin er führen kann.

In der Vorcede zu Maria Magdalena lese ich folgende Stelle: „Für
Rechenfehler ist Jedermann verantwortlich; dein Dichter dagegen muß man
verzeihen, wenn er es uicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal
die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen will oder nicht, denn
das einmal Lebendiggewordene läßt sich nicht zurückverdauen, es läßt sich
nicht wieder in Blut verwandeln, sondern muß in freier Selbständigkeit
hervortreten, und eine unterdrückte oder unmögliche geistige Entbindung
kann eben so gut wie eine leibliche, die Vernichtung, sei es nun durch den
Tod oder durch den Wahnsinn nach sich ziehen. Man denke an Lenz,
an Hölderlin, an Grabbc."

Ich muß gestehen, daß mich der nämliche Gedanke durchfröstelte, als
ich das neueste Werk des Dichters las. Hebbel ist zwar ein größerer Dichter,


Gr-nzbote». II. 1847. 66
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[0509] Friedrich Hebbel. Judith 1«40. — Genvvcva Is^S. — Maria Magduicna I8i4. — Der Diamant Unsere Zeit ist nicht so reich MI wahren Poeten, daß die Kritik nicht eifrigst nach jedem Goldkorn in der Spreu stöbern sollte. Fühlen wir uns einmal erquickt von dem Hauch des Genius, der ans einer Dichtung un¬ mittelbar in die Seele weht, so verdrießt es uns, wenn uns wie aus einer Dorade das kalte Wasser der Reflexion überströmt und nus das süße Gefühl der Bewunderung verkümmern will. Und wahrlich, thäte es noch Noth, gegen den Unverstand des Publikums die ursprüngliche Kraft, die grandiose Naturwahrheit jenes Dichters zu vertreten, der den entnervenden Reflexionen eines blasirten Zeitalters einmal wieder das Bild ganzer Menschen entgegen¬ hält, so würde ich der Letzte sein, an einer Erscheinung zu mäkeln, dienlich selbst in meinem Innersten ergrissen hat. Aber die Kritik hat darin jetzt ihre Schuldigkeit gethan; die Bedeutung Hel'bel'S, seine groß gedachte Cha¬ rakteristik im Gegensatz gegen die marklosen Phantasiegestalten seiner meisten Nebenbuhler, ist hinreichend gewürdigt, und ich darf es jetzt vor meinem Gewissen verantworten, wenn ich dem Dichter zurufe: Du bist auf einem Abwege, vou dem man noch nicht gewiß weiß, wohin er führen kann. In der Vorcede zu Maria Magdalena lese ich folgende Stelle: „Für Rechenfehler ist Jedermann verantwortlich; dein Dichter dagegen muß man verzeihen, wenn er es uicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen will oder nicht, denn das einmal Lebendiggewordene läßt sich nicht zurückverdauen, es läßt sich nicht wieder in Blut verwandeln, sondern muß in freier Selbständigkeit hervortreten, und eine unterdrückte oder unmögliche geistige Entbindung kann eben so gut wie eine leibliche, die Vernichtung, sei es nun durch den Tod oder durch den Wahnsinn nach sich ziehen. Man denke an Lenz, an Hölderlin, an Grabbc." Ich muß gestehen, daß mich der nämliche Gedanke durchfröstelte, als ich das neueste Werk des Dichters las. Hebbel ist zwar ein größerer Dichter, Gr-nzbote». II. 1847. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/509>, abgerufen am 29.06.2024.